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Rousseaus Bekenntnisse: Erinnerungen eines Individualisten
Warum waren Rousseaus Memoiren brisant?
Bereits erste Lesungen aus dem Manuskript in halb privatem Kreis lösten einen Skandal aus, da der französische Schriftsteller und Philosoph Jean Jacques Rousseau (1712 bis 1778) nicht mit aggressiven Ausfällen gegen prominente Zeitgenossen sparte – oft waren dies ehemalige Freunde, mit denen er inzwischen verfeindet war. Angeregt durch seinen Verleger, schrieb Rousseau von 1764 bis 1770 seine Lebensgeschichte nieder. Er bestimmte allerdings aus Rücksichtnahme gegenüber den Angegriffenen, dass das Buch nicht vor 1800 zu veröffentlichen sei; sein Verleger missachtete indes diese Anweisung und brachte das Werk schon 1782 und 1788 in vier Bänden heraus.
Handelt es sich um einen sachlichen Bericht?
Nein, das ursprünglich als Generalbeichte in der Tradition der »Confessiones« des Augustinus geplante Werk entwickelte sich teilweise zu einer eitlen, rührseligen Selbstbespiegelung. Rousseau stellte sich, seiner These der »Denaturation« folgend, als genialen und integren Menschen dar, der an widrigen Umständen gescheitert sei. Er selbst hielt seine Erinnerungen für »das einzig naturgetreue Abbild eines Menschen, das es gibt und das es je geben wird«.
Der erste Teil der Erinnerungen (Buch 1–6) rekapituliert die Jugendjahre des späteren Philosophen, während derer er sich in verschiedensten Berufen herumschlug, etwa als Graveur und Notenkopist arbeitete. Der zweite Teil (Buch 7–12) beschäftigt sich mit seinem Leben in Paris. Breiten Raum nehmen seine Beziehungen zum anderen Geschlecht ein, wie die erst spät legalisierte Liaison mit der Wäscherin Thérèse. Die fünf gemeinsamen Kinder gab der innovative Erziehungstheoretiker ins Heim – beileibe nicht der einzige Widerspruch im Leben des unruhigen Geistes, der stets unentschieden zwischen Selbstherrlichkeit und Verzweiflung schwankte.
Welche neuen Ideen beinhaltet das Werk?
Ungeachtet dieser Schwächen ist Rousseaus Autobiografie ein hochinteressantes Zeugnis des damals entstehenden Individualitätskultes. Der Autor setzte gegen die Vorherrschaft gesellschaftlicher Regeln das Prinzip des unabhängigen Ichs mit dem Grundtrieb der »Selbstliebe« (amour de soi), die er deutlich von der egozentrischen »Eigenliebe« (amour-propre) abgrenzt. Von größtem Einfluss waren solche Gedanken auf das Menschenbild und das Kunstverständnis der Frühromantik. Rousseaus Parteinahme für die Sinnlichkeit als Gegenkraft zur intellektuellen Erfahrung wurde dort ebenso fruchtbar wie seine Naturschwärmerei: Detaillierte Landschaftsbeschreibungen gehören zu den beeindruckendsten Passagen der »Bekenntnisse«.
In welcher Weise hat Rousseau die Geistesgeschichte geprägt?
Die Nachwirkung von Jean-Jacques Rousseaus literarischem Schaffen war äußerst vielfältig. Der politische Gehalt seiner Werke trug maßgeblich zur Entwicklung eines modernen Demokratieverständnisses bei. Seine Theorien zur Willensbildung und zur Legitimation von Herrschaft beeinflussten das politische Denken bis weit über die Französische Revolution hinaus. Seine pädagogischen Ansätze fanden beispielsweise bei Fröbel und Pestalozzi Anklang, während sich das literarische Vorbild zum Beispiel in Goethes »Leiden des jungen Werthers« und dem autobiografisch geprägten Künstlerroman der Romantik erkennen lässt. Und nicht zufällig gehört Rousseau zur Bildungslektüre des (noch unschuldigen) Monsters in Mary Shelleys berühmtem, 1818 erschienenem Roman »Frankenstein.«
Wussten Sie, dass …
das Genre der literarischen Lebensbeschreibung durch den Ich-Kult des 18. Jahrhunderts seine moderne Ausprägung erfuhr, woran Rousseau maßgeblichen Anteil hatte? Ein berühmtes Beispiel aus Deutschland sind die Lebenserinnerungen des Arztes Johann Heinrich Jung-Stilling (1835). Angeregt wurden sie durch Goethe, der wiederum mit »Dichtung und Wahrheit« (1813–1833) einen Glanzpunkt setzte.
Wie verlief die intellektuelle Entwicklung Rousseaus?
Der calvinistischen Kreisen Genfs entstammende Jean-Jacques Rousseau wurde am 28. Juni 1712 geboren. Er konvertierte früh zum Katholizismus und kam 1742 mit dem Philosophen Denis Diderot in Kontakt, der ihn mit Beiträgen für seine »Encyclopédie« beauftragte. Rousseaus eigentliche publizistische Karriere begann 1750 mit dem Aufsatz »Über Kunst und Wissenschaft«, in dem er erstmals zivilisationskritische Thesen formulierte. 1756 überarbeitete Rousseau seine geschichtsphilosophische Schrift »Vom Gesellschaftsvertrag«, die Gedankengut der Französischen Revolution vorwegnahm. Der große Wurf als Schriftsteller gelang ihm 1761 mit dem Roman »Julie oder Die neue Heloïse«, gefolgt 1762 von »Emil oder Über die Erziehung«. Die politische Brisanz seiner Schriften führte wiederholt zu Verboten und zwang Rousseau vorübergehend sogar ins Exil. Ab 1768 lebte er wieder in Frankreich, wo er am 2. Juli 1778 im ländlichen Refugium von Ermenonville bei Paris starb.
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