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Ein Kampf ohne Hoffnung - der Aufstand im Warschauer Ghetto

Der Tod war ihnen gewiss. Täglich sahen sie, wie Tausende von ihnen ins Gas abtransportiert wurden. Was die jungen Frauen und Männer wollten, war nicht der Sieg – auf den war nicht zu hoffen –, es war ein würdiger Tod. Statt wie Vieh abgeschlachtet zu werden, wollten sie im Kampf gegen ihre Mörder sterben. Am 19. April 1943 empfingen die Widerstandskämper die Panzer der SS mit Molotow-Cocktails und Pistolenschüssen. Wir erinnern an den größten jüdischen Widerstand gegen den braunen Terror.
von Susanne Böllert, wissen.de

Dieses Kind erbettelt Geld für Lebensmittel.
wissenmedia, Gütersloh

Im Warschauer Ghetto formiert sich Widerstand

Die Gerüchte von den Gaskammern im nahe gelegenen Konzentrationslager Treblinka klangen viel zu grausam, um wahr zu sein. Doch nachdem monatelang jeden Tag Transporte mit bis zu 12.000 Menschen das Ghetto verlassen hatten, um nie wieder zu kommen, mussten die seit zweieinhalb Jahren in Gefangenschaft vegetierenden Juden erkennen: Die Nazis hatten die systematische Ausrottung ihres Volkes eingeleitet. Und auch sie würden die drei Meter hohen Mauern des vier Quadratkilometer großen Warschauer Ghettos nur passieren, um grausam ermordet zu werden. Wenn sie nicht zuvor Hunger oder Seuchen dahingerafft hätten.

Tatsächlich hatten die Nationalsozialisten auf der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 die „Endlösung der Juden“ beschlossen und seit Juli 1942 bereits 310.000 Warschauer Ghetto-Bewohner in Vernichtungslager abtransportieren lassen.

Als die Fassungslosigkeit in Wut und Verzweiflung umgeschlagen war, formierte sich im Ghetto, in dem die Bevölkerung bereits von 400.000 auf weit unter 60.000 dezimiert worden war, der Widerstand. Man würde sich den deutschen Schlächtern nicht mehr kampflos ergeben. Die Jüdische Kampforganisation (ZOB) beschaffte sich im Untergrund eine nicht unerhebliche Zahl von Waffen, baute Verstecke und Bunker aus. Auch Marcel Reich, der ausgerechnet im Nachkriegsdeutschland zum berühmten Literaturkritiker Reich-Ranicki avancieren sollte, gehörte Anfang 1943 zur ZOB.  Der in der Ghetto-Verwaltung arbeitende Übersetzer war relativ gut informiert über die Vorkommnisse im Warschauer Ghetto. Als er und seine Frau Tosia jedoch an einem kalten Februarmorgen dem Tod ins Auge blicken – sie stehen bereits in der Deportationsschlange nach Treblinka – gelingt ihnen auf wundersame Weise die Flucht. Beide werden den Holocaust überlegen.

SS-General Jürgen Stroop bei der Leitung der Räumungsaktion nach dem Aufstand.
wissenmedia, Gütersloh

David gegen Goliath

Die zurückbleibenden Widerständler wissen, wie sehr sie den SS-Truppen zahlenmäßig unterlegen sind. Sie haben keine militärische Ausbildung, keine Kampferfahrung. Mit ihren Pistolen und Benzinflaschen werden sie gegen die Panzer und Maschinengewehre ihrer übermächtigen Feinde keine Chance haben. Doch sind die jüdischen Untergrundkämpfer von der Hoffnung getrieben, ihren Tod möglichst lange hinauszuzögern und den verhassten Deutschen stolz im Kampf zu begegnen.

Um sieben Uhr morgens am 19. April nehmen wenige Hundert Frauen und Männer die deutschen Panzer und Panzerwagen unter Beschuss und bewerfen sie mit selbst gebastelten Granaten und Molotowcocktails. Die jüdischen Guerillakämpfer überrumpeln die Deutschen. Die Soldaten, die gekommen waren, um die letzten Juden zu deportieren und das Ghetto aufzulösen, sind völlig unvorbereitet. Goliath hat keine Chance gegen David. Marek Edelmann, einer der Kommandanten des Ghetto-Aufstands, schreibt später: „Der erste Tag des Aufstandes gilt als der erste vollkommene Sieg über die Deutschen.“

Tagelang liefern sich die Juden mit der Waffen-SS und der deutschen Wehrmacht einen erbitterten Häuserkampf. Dann beginnen die Nazis auf Befehl des SS-Kommandeurs Jürgen Stroop, das unterirdische Kanalsystem zu fluten, die hart umkämpften Häuserblocks in Brand zu stecken. Die Menschen im Ghetto, die die Widerstandskämpfer unterstützten so gut es ging, werden systematisch ausgeräuchert. Goliath kennt keine Gnade. Im Tagebuch einer jungen Frau, die sich tagelang mit einer Suppe und einer Tasse Kaffee in einem überfüllten Kellerverlies am Leben hielt, ist zu lesen: „Das Ghetto brennt den vierten Tag. Man sieht nur noch die Kamine und die Skelette ausgebrannter Häuser. […]Wir leben diesen Tag, diese Stunde, diesen Augenblick.“ Wie die Frau starb, ist unbekannt. Dass sie den Aufstand im Ghetto überlebte, jedoch kaum vorstellbar.

Warschauer Ghetto
Corbis-Bettmann, New York

Das Ghetto wird dem Erdboden gleichgemacht

Nach 27 Tagen, am 16. Mai 1943, vermeldete SS-Kommandeur Stroop: „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk Warschau mehr.“ Mehr als 56.000 Juden sind in den Flammen umgekommen, wurden gleich erschossen oder in Vernichtungslagern ermordet. Viele hatten Selbstmord begangen. Das Ghetto wurde dem Erdboden gleichgemacht, die große jüdische Synagoge gesprengt. Nur einigen hundert Menschen gelang die Flucht durch das Kanalisationssystem, darunter auch ZOB-Kommandant Marek Edelmann. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2009 erklärte der Aufständische aus dem Warschauer Ghetto in einem Zeitungsinterview: „Es war ein Aufstand, um den Deutschen zu beweisen, dass eine kleine Gruppe ihren eigenen Überzeugungen folgt. Ohne Kraft. […] Es ist eine große Sache, wenn man ohne Kraft und Hoffnung kämpft.“

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