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Warum Ratten besser sind als ihr Ruf

Ratten haben kein gutes Image. Vielerorts gelten sie als eklige, kanalbewohnende Schädlinge, die darüber hinaus auch noch zahlreiche Krankheiten übertragen. Doch die kleinen Nager haben auch viele liebenswerte Seiten, mit denen sie uns Menschen mehr ähneln, als die meisten vermuten würden. Wie sehen diese Seiten aus? Welche Klischees über die Nager stimmen? Und warum sollten wir ihnen sogar dankbar sein?
AMA, 22.11.2023
Zwe Ratten im Park

© Nigel Harris, GettyImages

„Du Ratte!“, „In was für einem Rattenloch wohnst du denn?“, „Das wird einen Rattenschwanz an Problemen nach sich ziehen“. Die Beispiele zeigen: In unserer Gesellschaft ist der Rattenhass derart präsent, dass er sogar in unseren täglichen Sprachgebrauch Einzug gehalten hat. Viele ekeln sich vor den kleinen Nagern, weil sie durch die Kanalisation streifen und im Abfall wühlen, und haben Angst, sich bei ihnen mit gefährlichen Krankheiten anzustecken. Doch stimmen diese Ratten-Klischees überhaupt?

Wanderratte (Rattus norvegicus) im flachen Wasser
Ratten sind in der Regel ausgezeichnete Schwimmer. Vor allem Wanderratten siedeln sehr oft in Wassernähe.

© EstuaryPig, GettyImages

Reinlicher Keimherd

Es ist in der Tat so, dass in Deutschland heimische Wanderratten mit ihrem Speichel, Kot und Urin rund 120 Infektionskrankheiten übertragen können, wie das Niedersächsische Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit informiert. Dazu gehören Typhus und Cholera ebenso wie Trichinose, Toxoplasmose und das Hantavirus. Die Ratten selbst erkranken meist nicht, sondern geben die Viren und Bakterien lediglich weiter.

Da einige der Erreger, die Ratten mit sich herumtragen, auch an die Infektion von Menschen angepasst sind, können sie leicht auf uns überspringen und zu schweren Krankheitsverläufen führen. Auch in vergangenen Pest-Epidemien haben Ratten daher häufig eine wichtige Rolle gespielt und zwar indem sie den Pest-Erreger „Yersinia pestis“ in sich getragen haben. Wurden die Ratten von Rattenflöhen gebissen, ging der Erreger auf sie über und von dort weiter auf den Menschen.

All das bedeutet aber trotzdem noch nicht, dass Ratten grundsätzlich schmutzige, gefährliche Tiere sind. Tatsächlich gelten die Nager als sehr reinlich und putzen sich als Liebesbeweis auch häufig gegenseitig das Fell. Da sie jedoch gern Schutz in der Kanalisation suchen und in unseren Abfällen nach Futter wühlen, ist es unausweichlich, dass sie dabei auch zahlreiche Erreger „sammeln“.

Rattenfütterung im Karni-Mata-Tempel, Deshnok, Rajasthan
Ratten an einer mit Milch gefüllten Silberschale im Karni-Mata-Tempel in Deshnok.

© davidevison, GettyImages

Zwischen Segen und Empathie

Auch jenseits der Fellpflege steckt in Ratten so viel mehr als nur Krankheit und Seuche. Nicht umsonst gelten sie in manchen Kulturen sogar als heilig oder als Symbol für Wohlstand. So leben im indischen Karni-Mata-Tempel zum Beispiel rund 20.000 Ratten, die dort verehrt und gefüttert werden. Jeder Kontakt mit ihnen gilt als segensreich – sei es, indem die Nager einem über die Füße springen oder indem man etwas isst und trinkt, an dem sich zuvor bereits die Ratten bedient haben.

Und auch fernab von göttlichen Segenssprüchen haben die Nager viele liebenswerte Seiten. Sie sind zum Beispiel sehr intelligent, sozial und vor allem einfühlsam. In Experimenten befreien sie sogar fremde Artgenossen aus Käfigen und teilen anschließend Leckerlis mit ihnen. „Wir haben ihnen nicht gezeigt, wie sie die Tür öffnen können, und es ist auch nicht ganz einfach. Aber die Ratten versuchten es wieder und wieder, bis es schließlich gelang“, berichtet Studienleiterin Inbal Ben-Ami Bartal von der University of Chicago. „Es gab keinen anderen Grund für die Handlung dieser Ratten als ihren Wunsch, die Bedrängnis ihres gefangenen Artgenossen zu beenden.“

Ratten merken sich sogar, wenn ein Artgenosse gut zu ihnen war, und revanchieren sich später mit Futter oder Fellpflege. Und auch sonst erscheinen die Nager oft überraschend menschlich: Sie ärgern sich zum Beispiel über falsche Entscheidungen, besitzen Vorstellungskraft und können sogar verschiedene menschliche Sprachen auseinanderhalten.

Ratte als Haustier
Ratten sind verspielt und neugierig und können eine sehr enge Bindung zum Halter aufbauen.

© NoDerog, GettyImages

Ratten als Haustiere

Ihre besonderen Fähigkeiten machen aus Laborratten gezüchtete Farbratten sogar zu beliebten Haustieren. „Ratten sind Tiere, die eine innige Freundschaft zum Pfleger aufbauen können. Wenn die Ratten einem ihr Herz geschenkt haben, dann gehört einem das wirklich bis zum Lebensende“, erklärt Rattenzüchterin Karin Lauscher gegenüber ARD alpha.

Zutrauliche Ratten kuscheln außerdem gerne mit ihren Bezugspersonen und Jungtiere „kichern“ sogar ähnlich wie kleine Kinder, wenn man sie am Bauch kitzelt. Allerdings sind die Quietschtöne zu hoch, um sie mit dem menschlichen Ohr wahrnehmen zu können.

Rattenhaltung in einem Tierlabor
Rattenhaltung im Tierlabor.

© footgrafixx, GettyImages

Nützliche Nager

Wer Ratten trotz ihrer menschlichen Eigenschaften immer noch nicht ausstehen kann, sollte ihnen immerhin dankbar sein. Denn ohne Ratten würde die Medizin heute wahrscheinlich in vielen Bereichen noch in den Kinderschuhen stecken und viele lebensrettende Medikamente gäbe es gar nicht erst. Schätzungen des Deutschen Zentrums zum Schutz von Versuchtieren kamen allein in Deutschland 2021 rund 135.000 Ratten bei Tierversuchen ums Leben, mit denen zum Beispiel Medikamente oder Chemikalien an den kleinen Nagern getestet wurden. Dass sie derart beliebte Testobjekte sind, haben Ratten neben ihrer Zutraulichkeit auch ihren vielen genetischen Ähnlichkeiten zum Menschen zu verdanken.

Doch Tierversuche stehen auch immer wieder in der Kritik. „In legalen, teils gesetzlich vorgeschriebenen Experimenten werden Tiere vergiftet oder Stress und schädlicher Strahlung ausgesetzt. Sie werden mit Krankheiten infiziert, ihre Organe werden geschädigt, sie werden verstümmelt und auf weitere unvorstellbar grausame Weisen gequält“, schreibt etwa die Tierschutzorganisation Peta (People for the Ethical Treatment of Animals). Sie heißt es daher gut, dass Tierversuche heutzutage immer häufiger durch Alternativen ersetzt werden.

Ratten können uns Menschen allerdings auch dann helfen, wenn sie dafür nicht mit riskanten Eingriffen oder ihrem Leben bezahlen müssen. Denn die feine Nase der Nager lässt sich darauf trainieren, Tuberkulose oder Sprengstoff zu erschnüffeln. So helfen sie gerade in ärmeren Ländern, zahlreiche Leben zu retten. In den vermeintlich ekligen „Kanalratten“ steckt also viel mehr als man auf den ersten Blick erwarten würde.

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