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75 Jahre Grundgesetz – Welche Bedeutung hat es heute noch?

Vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz erstmals verkündet. Darin festgeschrieben sind unsere wichtigsten Werte und Regeln, wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Doch ist das Grundgesetz nach so langem Bestehen noch zeitgemäß? Wie stehen Menschen in Deutschland heute zur deutschen Verfassung? Und wie lassen sich Menschenwürde, Meinungsfreiheit und Co. gegen antidemokratische Tendenzen verteidigen?
THE / Universität Erlangen-Nürnberg, 23.05.2023
Symbolbild Grundgesetz

© Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)

Nach zwölf Jahren Nationalsozialismus und den damit verbundenen katastrophalen Gräueltaten wie dem Holocaust gab es eine Parole, die bis heute häufig wiederholt wird: „Nie wieder“. Nie wieder sollten Menschen oder der Staat andere auf diese Weise diskriminieren, verfolgen und systematisch  ermorden können. Doch wie verhindert man, dass die grausamsten Taten nicht in Vergessenheit geraten? Und wie verhindert man, dass sie sich wiederholen?

Um dies sicherzustellen, wurde am 23. Mai 1949, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Diktatur, das deutsche Grundgesetz formuliert und niedergeschrieben. Dieses soll alle Menschen in Deutschland vor Willkür, Ungerechtigkeit und Gewalt vonseiten des Staates oder andere Gruppierungen beschützen. Falls sich eine Person oder Gruppe also in ihren Grundrechten, beispielsweise in ihrer Menschenwürde verletzt fühlt, kann sie am Bundesverfassungsgericht klagen. Die Richter prüfen dann, ob tatsächlich gegen die Leitlinien verstoßen wurde, und fällen ein entsprechendes Urteil.

Nach 75 noch aktuell

Und auch heute, 75 Jahre nach seiner Verkündung, bleiben die festgeschriebenen Prinzipien laut Marc Liesching von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig aktuell. „Das Bundesverfassungsgericht findet auch zu aktuellen Themen immer wieder eine sachbezogene Auslegung des Grundgesetzes, sei es zu staatlichen Restriktionen aufgrund der Corona-Pandemie, zur Sterbehilfe, zum Schwangerschaftsabbruch etcetera. Als veraltet kann man das Grundgesetz daher jedenfalls in Bezug auf seine Grundrechte nur schwer ansehen.“

Besonders im digitalen Zeitalter, wo Meinungsäußerungen beispielsweise über Soziale Medien immer stärker im öffentlichen Raum verbreitet werden, geht es laut dem Juristen häufig um Fragen des Grundrechts. Das sieht man laut Liesching etwa am Beispiel Erdoğan gegen Böhmermann, als der TV-Moderator einen beleidigenden Song über den amtierenden türkischen Präsidenten schrieb, aber auch bei der Content-Löschung oder Account-Sperrungen in Sozialen Medien. „Immer sind Grundrechtspositionen berührt, wie die Meinungsfreiheit, die Informationsfreiheit, die Kunstfreiheit oder das Persönlichkeitsrecht“ , so der Experte.

Starke Befürwortung, aber auch kritische Stimmen

Auch die meisten Menschen in Deutschland halten das Grundgesetz weiterhin für durchaus wichtig und aktuell. Laut einer Studie des Forschungscenters MIDEM an der TU Dresden sind 81 Prozent der Befragten hierzulande der Meinung, das Grundgesetz habe sich bewährt. "Die Ergebnisse unserer Studie verdeutlichen, dass das Grundgesetz auch nach 75 Jahren eine starke Stütze unserer Demokratie bleibt, trotz deutlicher Meinungsverschiedenheiten mit Blick auf die Ränder des politischen Spektrums", sagt Hans Vorländer, der Direktor des Forschungscenters. Interessant dabei: Je älter, formal gebildeter oder politisch interessierter die Teilnehmer der Umfrage waren, desto positiver fiel ihr Urteil über das Grundgesetz aus.

Doch nicht alle sind so überzeugt von der deutschen Verfassung: Immerhin 17 Prozent der Befragten stehen den formulierten Leitlinien kritisch gegenüber – hochgerechnet sind das mindestens zehn Millionen Menschen in Deutschland. 15 Prozent der Befragten sprechen sich zudem sogar offen für eine Totalrevision, also eine komplette Überarbeitung der Verfassung aus. Die stärkste Zustimmung dafür findet sich bei der Anhängerschaft der AfD mit 39 Prozent, aber auch beim Bündnis Sahra Wagenknecht, deren Mitglieder zu  knapp einem Drittel für die Revision sind.

Antidemokratische Kräfte gefährden die Demokratie

Diese verfassungskritischen Tendenzen schüren wiederum Ängste in anderen Gruppen der  Bevölkerung. Laut einer Befragung des SINUS-Instituts und YouGov sehen 59 Prozent der Deutschen die Demokratie in Gefahr, wobei sich fast zwei Drittel der Befragten vor allem um rechte Kräfte sorgen. Doch auch die Bereitschaft der Deutschen, für den Erhalt ihrer Verfassung einzutreten, ist laut Vorländer hoch. „78 Prozent erklären sich bereit, das Grundgesetz gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen aktiv zu verteidigen“, so der MIDEM-Direktor.

Diese Verteidigungsbereitschaft braucht die Demokratie, wie Liesching erklärt. Denn das Grundgesetz kann nicht vor allen  demokratiefeindlichen Bestrebungen schützen. „Eine echte Garantie für Grundrechtsverwirklichung in der Praxis gibt es nicht, wie es auch einige autokratische Staaten veranschaulichen. Sie haben formal Grundrechte in der Verfassung geschrieben stehen, die aber in der Realität, zum Beispiel aufgrund der Unterminierung der Gewaltenteilung und Verbotsgesetzen, nicht oder nun noch sehr eingeschränkt ausgeübt werden können“, sagt der Jurist.

Im Kontext dieser aktuellen Erfolge, Befürchtungen und Fragen beantwortet der Rechtsexperte Christoph Safferling von der Universität Erlangen-Nürnberg, unsere Fragen zum  Grundgesetz.

Ist das Grundgesetz auch nach 75 Jahren in guter Verfassung?

Safferling: Ich denke schon, dass man das Jubiläum nicht nur feiern darf, sondern sogar muss. Wir haben mit dem Grundgesetz eine sehr stabile, verlässliche, liberale und demokratische Rechtsstaatsordnung, auf die wir stolz sein können. Das Grundgesetz hat nicht nur Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht geschaffen, die verlässlich arbeiten und dazu beitragen, dass die Gesellschaft zusammengehalten wird. Mit den Grundrechten hat es auch für eine Wertegrundlage gesorgt, die ein friedliches, pluralistisches, liberales Zusammenleben möglich macht.

War es bereits in den Anfangsjahren absehbar, dass das Grundgesetz zur Erfolgsgeschichte wird?

Bei der anfänglichen Diskussion um die neue Verfassung für Deutschland wurde immer betont, dass es sich beim Grundgesetz nur um ein Provisorium handelt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten die Vorstellung, dass es für eine Übergangszeit bis zu einer hoffentlich stattfindenden Wiedervereinigung Gültigkeit besitzt. Aber das Grundgesetz hatte nie einen bloßen provisorischen Charakter. Es hat von Beginn an eine vollfunktionsfähige Staatlichkeit und Werteordnung geschaffen.

Das Grundgesetz ist als eine deutliche Reaktion auf die zwölf Jahre Nationalsozialismus und die damit verbundene völlige Katastrophe nicht nur militärischer, sondern auch zivilisatorischer Art. Es hat mit seinem Artikel eins „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ direkt am Anfang eine klare Werteausrichtung vorgegeben. Zugleich hat es Abstand genommen von jeglicher zentralistischen Vorstellung. Vielmehr hat es eine föderale Struktur geschaffen, wie wir sie bis heute kennen und schätzen.

Blicken wir in die Gegenwart: Wir müssen eine erstarkte radikale Rechte im Land erleben, stehen vor Wahlen, in denen große Erfolge für die AfD prognostiziert werden. Kann das Grundgesetz auch 2024 Garant für eine stabile Demokratie sein?

Daran besteht für mich kein Zweifel. Aus meiner Sicht ist das Grundgesetz unangefochten. Wir leben in einer Zeit multipler Krisen – innerstaatlich, auf europäischer Ebene und weltweit. Wir haben diese bislang ganz gut gemeistert, aber die vielen Streitigkeiten kratzen am Vertrauen in die Politik. Die Grundidee der repräsentativen Demokratie und weltoffenen Gesellschaft wird in Frage gestellt. Doch das Grundgesetz ist stark genug, um mit rechtsstaatlichen Mitteln die freiheitlich demokratische Grundordnung zu verteidigen.

Heute gibt es Schwerpunktstaatsanwaltschaften und auch bei der Polizei entsprechende Spezialstellen, die beispielsweise Hassrede oder Antisemitismus aktiv verfolgen. Das kann unser Rechtsstaat auf Basis des Grundgesetzes leisten. Wir müssen aber die Politik in die Verantwortung nehmen, dass sie die Werte, die sich hier verkörpern, auch immer wieder vermitteln, erklären und Vertrauen schaffen. Das gelingt gerade nicht immer.

Ist auch das Grundgesetz gefordert? Wo sehen Sie Schwachstellen und Reformbedarf, um unsere Verfassung an die Erfordernisse der Zeit anzupassen?

Das Bundesverfassungsgericht ist im Grundgesetz nur rudimentär geregelt. In der aktuellen politischen Gemengelage besteht die Gefahr, dass dessen Arbeit blockiert wird, wenn die AfD in Länderparlamenten oder auf Bundesebene noch stärker wird und wiederum die Wahl der Richterinnen und Richter blockiert. Das sollte man in den Blick nehmen und überlegen, welche Sicherungsmechanismen in das Grundgesetz eingefügt werden können, um das Bundesverfassungsgericht auch in solch einer Situation arbeitsfähig zu erhalten.

Was ebenfalls ein Punkt sein kann: Weil wir darauf bedacht sind, möglichst immer alle Belange miteinzubeziehen, sind die Entscheidungsstrukturen mitunter sehr langwierig. Man sollte darüber nachdenken, ob man nicht im Grundgesetz bestimmte Wertevorstellungen verstärkt. Ein Beispiel ist der Klimaschutz. Würde diesem im Grundgesetz Priorität eingeräumt, könnte man entsprechende Entscheidungen schneller herbeiführen. Man muss sich bewusst machen, dass sich die Interpretation der Grundrechte wandelt. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Unsere Verfassung ist dynamisch und immer auch gesellschaftlichem Wandel unterworfen.

Quelle: Universität Erlangen-Nürnberg

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