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Alternativen zu Tierversuchen gesucht

Ethisch bedenklich: Bevor neue Arzneimittel, Kosmetika und Chemikalien auf den Markt kommen, braucht es viele Tests – häufig an lebendigen Versuchstieren. Denn Mäuse, Frösche und Co. teilen einige Zelleigenschaften und genetische Anlagen mit dem menschlichen Organismus. Die damit gewonnen Erkenntnisse sind oft wertvoll, aber nicht immer auf den Menschen übertragbar und kaum mit dem Tierwohl vereinbar. Aber welche Alternativen gibt es?
ABO, 14.10.2020

Welche Alternativen gibt es zu Tierversuchen?

iStock.com, artisteer

Ob in der medizinischen Grundlagenforschung, bei Arzneimitteltests oder für Kosmetika: In allen diesen Bereichen müssen unzählige Mäuse, Ratten, Kaninchen und andere Tiere als Versuchsobjekte herhalten. Denn Tests an ihnen sollen zeigen, wo Mediziner mit einer Therapie für Krankheiten ansetzen können, ob ein Wirkstoff verträglich und heilsam ist oder sicherstellen, dass ein Parfum oder Shampoo nicht die Haut reizt.

Das deutsche Tierschutzgesetz legt bisher fest, dass Tierversuche nur durchgeführt werden dürfen, wenn klar begründet keine Alternativmethoden genutzt werden können. Unternehmen und Forschungseinrichtungen werden außerdem aufgerufen, Daten zu bereits durchgeführten Versuchen untereinander auszutauschen, um doppelte Tierversuche mit denselben Stoffen zu vermeiden.

Auf der Suche nach einem Ersatz

Um die Forschung an Alternativen voranzutreiben, werden allein in Deutschland hunderte Projekte zur Entwicklung von Ersatz-Testmethoden gefördert. Auch weltweit arbeiten Wissenschaftler seit Jahren an Alternativen zu Tierexperimenten, um die Zahl der Versuchstiere in den Forschungslaboren und die damit einhergehenden Kosten zu vermindern. Auch erhoffen sie sich damit, deutlich schnellere Testverfahren zu ermöglichen.

Tatsächlich existieren es schon einige  Alternativen. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz von pluripotente Stammzellen: Mithilfe dieser Zellen können menschliche Gewebe kultiviert werden, die nahezu wie natürliche Körpergewebe funktionieren – und damit in mancher Hinsicht sogar aussagekräftiger sind als Tierversuche. Denn längst nicht alle tierischen Organe und Gewebe reagieren genauso wie unsere eigenen. Beispielweise züchteten Biotechnologen aus menschlichen Stammzellen bereits voll funktionierende Blutgefäße zur Erforschung von Erkrankungen dieser Gewebe. Die Ätzwirkung von Chemikalien lässt sich auf künstlich hergestellten Hautschichten überprüfen. Für die Medizin von Bedeutung sind auch durch Gewebezüchtung hergestellte Gefäßprothesen und Herzklappen.

Embryonale Stammzellen (l.) sind Vorläuferzellen höher differenzierter Zellen, wie etwa einer Nervenzelle (r.). Je weiter die Spezialisierung der Tochterzellen einer Stammzelle voranschreitet, desto stärker wird ihre Differenzierungsmöglichkeit in verschiedene Gewebe eingeschränkt.

Eugene Russo und Nissim Benvenisty, 10.1371/journal.pbio.0030234 / CC BY 2.5

Künstlich, aber sehr differenziert

Außerdem können Forscher verschiedene Zellen gemeinsam kultivieren - sogenannte Co-Kulturen. Mit solchen Kulturen lassen sich manche biologischen Prozesse wie etwa Signalübertragungen zwischen benachbarten Zellen nachstellen. Da menschliche Zellen im Körper in Verbänden und Organen heranwachsen, gelten dabei 3D-Zellkultursysteme als besonders vielversprechend: Wissenschaftler der Universitätsmedizin Leipzig entwickeln dafür ein Silikongitter, auf dem Stammzellen ausgesät und vermehrt werden. Darauf bilden sie schließlich dreidimensionale Zellstrukturen, die den menschlichen Organen zumindest morphologisch sehr ähnlich sind. Die Entwicklung dieser Systeme ist aber noch nicht vollständig abgeschlossen.

Um Zellen dauerhaft in Kultur halten zu können, benutzen Forscher permanente Zellkulturen - sogenannte immortalisierte Zellen. Diese teilen sich ähnlich wie Krebszellen immer weiter und sind so praktisch unbegrenzt lebensfähig. Das Problem dabei: Die Zellen in permanenten Zellkulturen ändern bei der Immortalisierung häufig ihre ursprünglichen Eigenschaften. Sie sind daher nicht für alle Tests geeignet.

Von der Zelle zum Organ

Bislang ist es schwierig, Organe wie beispielsweise Herz, Lunge oder Niere durch „Züchtung im Reagenzglas“ herzustellen. Durch das sogenannte „Tissue Engineering“ könnten in Zukunft beispielsweise Nerven- oder Muskelzellen zu einer funktionsfähigen Gewebeeinheit zusammenwachsen. Um Zellkulturen zu voll funktionsfähigen komplexen Geweben und Organen wachsen zu lassen, arbeiten Forscher unter anderem der Universität Kaiserslautern aber daran, mithilfe von  magnetische und elektrische Feldern das Zellwachstum zu beeinflussen.

Mit sogenannten Organoiden erzielten mehrere Forscherteams weltweit bereits erste Erfolge. Dabei handelt es sich um aus menschlichen Zellen gezüchtete Organe im Kleinformat. Mithilfe solcher Hirn-Organoide fanden Wissenschaftler beispielsweise eine potenzielle Ursache für tödliche Hirnmissbildungen, die durch eine seltene genetische Störung ausgelöst werden. Andere haben Organoide mit Haar und Haut gezüchtet, an denen Therapien gegen Haarausfall untersucht werden können. Und auch bei der aktuellen Corona-Pandemie haben Organoide wichtige Informationen geliefert: Im Labor gezüchtete Darm-Organoide haben enthüllt das das Coronavirus SARS-CoV-2 auch die Zellen der menschliche Darmschleimhaut attackiert.

Organoid des menschlichen Innenohres. Die Schall wahrnehmenden Haarsinneszellen sind rot gefärbt, Zellkerne türkis

Karl R. Koehler, Ph.D., Indiana University School of Medicine / CC BY-NC 2.0

In-silico statt in-vivo

Statt in lebendigen Wesen oder im Reagenzglas zu forschen, nutzen Forscher zusätzlich In-silico-Verfahren. Dabei werden beispielsweise vereinzelte Zellfunktionen oder Krankheitsverläufe mithilfe von Computermodellen simuliert. Wissenschaftler können damit in etwa vorhersagen, wie zum Beispiel neue Medikamente im menschlichen Körper reagieren oder wann sie abgebaut werden.

Alle Funktionen des Körpers können derzeit aber noch nicht technisch nachgeahmt werden. Zu den großen Forschungsprojekten in diesem Bereich zählt das EU-geförderte „Human Brain Project“. Hier arbeiten Wissenschaftler daran, Teile des Gehirns mit computerbasierten Modellen zu simulieren, um ihre Funktionen besser zu erforschen. Um diese Modelle zu erstellen, nutzen die Entwickler auch bildgebende Verfahren wie Kernspintomographie (MRT) oder Ultraschall.

An der Universität Tübingen entwickelten Forscher außerdem einen technischen „Realtime-Herzklappen-Bioreaktor“: Dieses Gerät simuliert zum Beispiel Blutfluss, Blutdruck und Herzfrequenz. Die Experten setzen sogar künstliche Herzklappen in die Maschine ein und können sie damit beobachten.

Supercomputer wie der Blue Gene von IBM ermöglichen es, einzelne Zellfunktionen oder sogar ganze Organe mithilfe von Computermodellen zu simulieren.

Den ganzen Organismus nachbauen

Außerdem versuchen Wissenschaftler - wie zum Beispiel am Fraunhofer-Institut für Werkstoff und Strahltechnik IWS – derzeit die verschiedenen Organsysteme des menschlichen Körpers auf sogenannten Biochips nachzubilden und miteinander zu vernetzen. In dem Chip lassen sich an mehreren Positionen menschliche Zellen aus verschiedenen Organen aufbringen. Diese „Mini-Organe“ sind durch winzige Kanäle miteinander verbunden.

Mittlerweile gibt es solche Systeme für Organe wie die Leber, Lunge und Niere und für Nervenzellen. Forscherteams stellten auch bereits Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper verblüffend genau nach, darunter auch den Blutkreislauf. Mithilfe von Mikropumpen entsteht sogar eine Strömung im System. Wie das menschliche Blut fließt das Medium kontinuierlich durch den gesamten Kreislauf auf dem Chip. In Zukunft sollen alle relevanten Organe zu einem Organismus zusammengefügt werden.

Multiorgan-Chip mit Pumpen und Ventilen (kleine rote Punkte) sowie den drei Kammern für Organe, Gewebe und Blut und Wirkstoffe.

Fraunhofer IWS Dresden

Auf den Patienten zugeschnitten

Letztlich rückt gerade die personalisierte Medizin immer mehr in den Fokus: Die Wirkung von Medikamenten unterscheidet sich nämlich nicht nur vom Tier zum Menschen, sondern oft auch von Person zu Person. Deswegen lässt sich nur schwer voraussagen, ob ein Medikament oder Kosmetikum einem bestimmten Patienten tatsächlich hilft oder zu unerwünschten Nebenwirkungen führt. In Zukunft könnte durch die Analyse der kompletten DNA möglicherweise ein „digitaler Zwilling“ jedes Menschen angelegt werden, um geplante Behandlungen durchzuspielen. Auch Zellkulturen, Organoide oder Multiorganchips ließen sich auf diese Weise personalisieren.

Bislang nur Hoffnungsträger

Obwohl diese zahlreiche Alternativmethoden im Einsatz oder der Entwicklung sind, können sie bislang noch nicht sämtliche Tierversuche ersetzen. Denn alternative Testsysteme können häufig nur Teilaspekte der äußerst komplexen Vorgänge im menschlichen Körper simulieren – aber Arzneimittel und Kosmetika wirken sich meist auf ganzen Organismus aus. Und Unternehmen fällt eine Abkehr von Tierversuchen auch deshalb schwer, weil sie häufig die Investitionskosten scheuen – und sie gesetzlich noch nicht dazu verpflichtet sind.

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