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Anschläge: Verzerrte Wahrheit

Ob Chemnitz oder Ansbach - immer wieder muss sich die Öffentlichkeit mit gewaltsamen Attacken und Anschlägen auseinandersetzen. Psychologen beobachten dabei regelmäßig ein interessantes Phänomen: Obwohl die Ermittler die Hintergründe der Tat noch gar nicht kennen, wissen die Bürger vermeintlich bereits genau Bescheid. Sie bilden sich verzerrte Urteile über Gewalttaten, um die Integrität ihrer eigenen sozialen Gruppe zu wahren, wie eine Studie nun offenbart.
Fernuniversität in Hagen / DAL, 27.09.2018

Der Fall Chemnitz hat es jüngst wieder eindrücklich gezeigt: Wir Menschen sind gut darin, uns vorschnelle Urteile zu bilden. Obwohl nach dem gewaltsamen Tod eines jungen Mannes am Rande des Chemnitzer Stadtfests die Hintergründe dieses Vorfalls zunächst unklar waren, glaubten einige Bürger die Wahrheit bereits zu kennen. Schnell kursierten unzählige Gerüchte. Rechte und Rechtsradikale instrumentalisierten die Tat, es kam zu ausländerfeindlichen Protesten.

Psychologen beobachten immer wieder, dass sich in der Öffentlichkeit unterschiedliche Urteile über das vermeintliche Täterprofil herausgebildet haben, bevor die Ermittler die wahren Hintergründe eines Angriffs oder Anschlags überhaupt aufdecken konnten. Wie subjektiv verzerrt diese Einschätzungen mitunter sind, offenbart nun eine internationale Studie mit Beteiligung eines deutschen Teams um Birte Siem von der Fernuniversität Hagen.

Öffentliche Diskussion setzt meist schon ein, bevor die Polizei die Hintergründe eines Angriffs oder Anschlags überhaupt aufdecken konnte.

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Die eigene Gruppe schützen

Für ihre Untersuchung befragten die Forscher zunächst mehrere Briten, direkt nachdem die Labour-Abgeordnete und Brexit-Gegnerin Jo Cox im Juni 2016 von einem Attentäter ermordet worden war. Neben dem Verdacht einer rein politischen Motivation gab es damals auch Indizien für psychische Probleme des Mörders. Die Aufgabe der Studienteilnehmer war es nun, sich selbst einem politischen Spektrum zuzuordnen und eine Beurteilung der Situation vorzunehmen.

Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Die meisten Brexit-Befürwortenden distanzierten sich vom Attentäter, indem sie auf seine seelische Instabilität verwiesen. "Je nachdem, welches Motiv ich als Erklärung für eine Tat heranziehe, bestrafe ich nicht nur den Täter, sondern auch seine Eigengruppe, die sogenannte In-Group", erklärt Siems Kollege Agostino Mazziotta. "Die Gruppe, der wir uns zugehörig fühlen, ist Teil unserer Identität. Deswegen tendieren wir dazu, sie zu schützen."

Dass die mit dem Täter assoziierten Brexiteers nicht an einen politisch motivierten Mord glaubten, passte demnach ins vermutete Muster. "Diejenigen, die für den Brexit waren, hätten ja sonst zugegeben, dass jemand aus ihren Reihen radikal ist", konstatiert Siem.

Krankheit oder Kalkül?

In einem zweiten Durchlauf übertrugen die Wissenschaftler die Fragestellung kurze Zeit später auf den Anschlag im bayrischen Ansbach. Im Juli 2016 verletzte ein syrischer Asylbewerber 15 Menschen mit einer Bombe und kam dabei selbst ums Leben. Siems Team reagierte so schnell wie möglich. So wie auch in England mussten sie die Befragung abschließen, noch bevor sich die Nachrichtenlage klären würde. Denn objektive Informationen zum Motiv des Täters hätten das Ergebnis verfälscht.

Die Auswertung der Fragebögen passte erneut ins Bild: Analog zur Rechtsprechung straft die Öffentlichkeit Gewaltakte weniger ab, wenn sie nicht auf Kalkül, sondern Krankheit zurückgehen. Die meisten Anhänger einer offenen Asylpolitik führten den Anschlag des jungen Moslems daher auf seelische Probleme zurück, um ihre In-Group zu verteidigen.

Die gegnerische Gruppe sah in dem Angreifer hingegen sofort den islamischen Terroristen, und somit ein Beispiel für die – ihrer Meinung nach – gescheiterte Asylpolitik der Bundesregierung. "Die Testpersonen versuchten eine Erklärung für die Gewalttat zu finden, die der eigenen Position dienlich ist", sagt Siem.

Sind Täter und Motive klar, versuchen wir wenn möglich, uns und unsere In-Group von ihnen zu distanzieren.

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Erklärungen suchen

Bei ihrer dritten Erhebung in den USA gingen die Forscher anders vor: "Wir wollten wissen, was passiert, wenn die Motive klar sind", berichtet Siem. Der Attentäter "Mister A" war deshalb eine erfundene Figur – und die Testgruppen bekamen bereits im Vorfeld Hintergrundinfos dazu, ob der Täter aus psychischer Unzurechnungsfähigkeit oder politisch motiviert handelte.

"Wenn die Möglichkeit wegfällt, die eigene Gruppe dadurch zu schützen, dass man sagt, jemand ist psychisch krank, werden eben andere Gründe gesucht, die Person auszuschließen", berichtet Mazziotta. So distanzierten US-amerikanische Patrioten einen geistig gesunden Terroristen unter anderem von ihrer In-Group, indem sie urteilten, er sei wahrscheinlich Moslem.

Implikationen für die Medienbranche?

Aus der Studie ergeben sich Anknüpfpunkte für weitere psychologische Überlegungen, wie die Wissenschaftler betonen. Zum Beispiel stehe nun die Frage im Raum, welche Implikationen für die Medienbranche aus der verzerrten Urteilsbildung der Öffentlichkeit erwachsen. Gerade in Zeiten von Fake-News-Debatten und Populismus könne die Psychologie hier wertvolle Erkenntnisse liefern, schließen Siem und ihre Kollegen.

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