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Von zu Hause ausziehen: Was geht dabei in Eltern und Kindern vor?

Das Wintersemester läuft jetzt seit zwei Wochen und das bedeutet: Viele Erstsemester, die für das Studium umgezogen sind, finden sich gerade in ihrem neuen, unabhängigen Leben zurecht. Doch auch ihre Eltern sind gerade dabei, ihr Leben neu anzugehen. Der Auszug von zu Hause ist nämlich ein großer Schritt für alle Beteiligten – nicht nur für das ausziehende Kind, sondern auch für dessen Eltern. Was bedeutet dies psychisch? Und was verrät dies über unseren Bindungstyp?
AMA, 17.10.2022
Vater und Tochter beim Ausladen von Umzugskartons

AzmanJaka, GettyImages

Im Durchschnitt sind junge Erwachsene in Deutschland 23,8 Jahre alt, wenn sie von zu Hause ausziehen, Frauen ein paar Monate jünger, Männer ein paar Monate älter. Auch wenn ihnen und ihren Eltern bewusst ist, dass es irgendwann zu diesem Schritt kommen wird, bedeutet der Auszug trotzdem eine große Wende im Leben der Familie. Was im Moment des Umzugs und in der Zeit danach in Eltern und Kindern vorgeht, ist von Person zu Person anders und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Dennoch gibt es ein paar Grundmuster, die sich immer wieder im Gefühlschaos der Beteiligten erkennen lassen.

Leeres Nest, leeres Herz?

Es kann vorkommen, dass Eltern ein sogenanntes Empty-Nest-Syndrom entwickeln, wenn ihre Kinder auf einmal eigene Wege gehen. Wie Küken, die das Fliegen lernen und ihren Eltern ein „leeres Nest“ hinterlassen. Das Empty-Nest-Syndrom ist keine Krankheit, aber davon gekennzeichnet, dass Eltern sich einsam, traurig und unzufrieden fühlen. Die Gefühle können sogar so stark werden, dass sie sich in Einzelfällen zu Depressionen entwickeln.

Manche Eltern haben den Sinn ihres Lebens darin gesehen, ein Kind oder mehrere aufzuziehen, und fühlen sich von jetzt auf gleich dieser Aufgabe beraubt. Laut Studien trifft das Syndrom jene Elternteile heftiger, die für die Erziehung zu Hause geblieben sind, oder die alleinerziehend waren und mit dem Auszug des Kindes ihren einzigen Mitbewohner verlieren.

Eltern mit Einzelkind können eventuell auch schwerer betroffen sein, da sie sich nicht wie Eltern mit mehreren Kindern Schritt für Schritt daran gewöhnen konnten, wie sich das Haus leert, sondern von einem Moment auf den anderen ein leeres Kinderzimmer vorfinden. Das Empty-Nest-Syndrom wird bei vielen Eltern allerdings von positiven Gefühlen überschattet, zum Beispiel von dem Stolz, ein Kind zu einem selbstständigen Menschen herangezogen zu haben, der nun ein eigenes Leben beginnt. 

Der Bindungstyp spielt eine Rolle

Wie schwer Eltern das Loslassen fällt, kann auch damit zusammenhängen, welchem Bindungstyp sie angehören. Der eigene Bindungstyp entsteht bereits in der frühen Kindheit und prägt uns auch noch als Erwachsene. Wenn Kinder ihre Eltern zum Beispiel als zuverlässig erlebt haben und ihnen vertrauen konnten, gehen sie auch als Erwachsene mit der Einstellung durchs Leben, dass die Welt ihnen nichts Böses will, und entwickeln starke Beziehungen zu anderen.

Solche sicher gebundenen Eltern kommen am besten mit dem Auszug des Kindes zurecht. Sie nehmen die Welt als sicheren Ort wahr, haben ein starkes soziales Netz und machen sich keine Sorgen darüber, den Kontakt zum Kind zu verlieren. Sie bieten weiterhin Rückhalt und Unterstützung, sollte das ausgezogene Kind diese benötigen. Mit Eltern dieses Bindungstyps haben Kinder gute Chancen, sich nach dem Umzug frei und selbstständig zu entfalten.

Unsicher vermeidend gebundene Menschen konnten sich in der Kindheit nicht auf ihre Eltern verlassen und haben früh gelernt, für sich selbst zu sorgen. Wenn sie selbst Eltern werden und die eigenen Kinder ausziehen, mögen sie diese vielleicht zunächst vermissen, gewöhnen sich aber schnell an die neue Realität. Sie warten, bis sich ihre Kinder bei ihnen melden, statt von sich aus einen intensiven Kontakt aufrechtzuerhalten. Wenn die ausgezogenen Kinder Probleme haben, stehen ihre Eltern ihnen in vielen Fällen vermutlich nicht unterstützend zur Seite.

Menschen mit unsicher-ambivalentem Bindungstyp haben ihre Eltern auf verschiedene Weisen erlebt, mal liebevoll, mal ablehnend. Sie entwickeln Verlustängste und sind häufig verunsichert. Diese Verlustängste greifen voraussichtlich auch, wenn Eltern dieses Bindungstyps mit dem Auszug ihrer Kinder zurechtkommen müssen. Sie sind traurig, können nur schwer loslassen und wünschen sich mehr Kontakt zu dem Kind. In extremen Fällen kann es sein, dass sie sich zu häufig melden. Das Kind hat dadurch eventuell Probleme, sich frei zu entfalten und ein unabhängiges Leben aufzubauen.

Den letzten Bindungstyp stellen Menschen mit unsicher-desorganisierter Bindung dar. Diese geht häufig auf ein Trauma aus frühester Kindheit zurück. Bei Eltern dieses Bindungstyps lässt sich kaum vorhersagen, wie sie auf den Auszug ihrer Kinder reagieren. Sie können zwischen zu viel Nähe und zu viel Distanz hin und her schwanken und im Extremfall sogar feindselig werden, indem sie das Kind beschuldigen, sie im Stich zu lassen. Kinder mit solchen Eltern haben es sehr schwer, sich frei zu entwickeln und ihren Platz in der Welt zu finden.

Wie fühlen sich Kinder beim Auszug?

Während die Gefühlswelt von Eltern gut erforscht ist, gibt es über das Innenleben von ausziehenden Kindern kaum wissenschaftliche Erkenntnisse. Allerdings hat der Bindungsstil ihrer Eltern einen großen Einfluss darauf, wie sie den Auszug wahrnehmen und wie frei sie sich danach entfalten können.

Ebenso wie bei den Eltern sind aber auch die Gefühle der Kinder häufig durchaus gemischt. In einem Online-Forum zu dem Thema schreibt ein Nutzer, der kurz vor dem Ausziehen steht, zum Beispiel: „Auf der einen Seite freue ich mich darauf und akzeptiere, dass ich erwachsen werde und auf dem Weg bin, ein Mann zu werden. Auf der anderen Seite habe ich jedoch auch ein etwas komisches Gefühl und bin mir noch unsicher damit, ob ich das alles so auf die Reihe bekomme.“ Eine andere Nutzerin beschreibt ihren Auszug im Rückblick als durchweg positive Erfahrung. Sie habe sich „total frei gefühlt. Neue Stadt, neuer Lebensabschnitt und neue Herausforderungen das war schon echt cool.“ 

Auf ihrer eigenen Webseite hat auch Bloggerin „Mareike“ ihre Gedanken und Gefühle niedergeschrieben, die sie kurz vor dem Auszug im Alter von 24 Jahren umgetrieben haben. Einerseits hatte sie Angst davor, sich einsam zu fühlen, die Nähe zur Familie zu vermissen, es vielleicht nicht alleine zu schaffen und den Schritt schnell zu bereuen. Andererseits hoffte sie darauf, durch die Wende ihre eigene Persönlichkeit entfalten und mehr Lebenserfahrung sammeln zu können sowie mehr Freiräume und Möglichkeiten vorzufinden.

Der Auszug aus dem Elternhaus kann also ganz individuelle Gefühle, Sorgen, Hoffnungen und Wünsche auslösen. In jedem Fall bedeutet er für alle Beteiligten einen Neuanfang, den sie nutzen müssen, um ihr Leben so auszurichten, dass sie mit der neuen Situation zurechtkommen. 

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