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Warum wir manches lieber nicht wissen wollen

Ob Klimareport, Kriegsnachrichten oder medizinische Testergebnisse: Jeder von uns hat sich wahrscheinlich schon einmal bewusst gegen bestimmte Informationen entschieden. In der Forschung spricht man auch von vorsätzlicher Ignoranz. Doch wie verbreitet ist die bewusste Entscheidung gegen eine Information? Was bringt uns das gewollte Nichtwissen? Und in welchen gesellschaftlichen Bereichen ist es sogar gang und gäbe?
AMA, 26.10.2023
Zwei Bilder einer jungen Frau, die sich die Augen bzw. die Ohren zuhält

© SensorSpot, GettyImages

In unserem Alltag entscheiden wir uns öfter bewusst dagegen, bestimmte Informationen zu erfahren, zum Beispiel unter welchen Bedingungen unsere Kleidung hergestellt wurde oder wie viele Todesfälle es heute an der Kriegsfront in Nahost gab. Auch wie klimaschädlich nun die Autofahrt zur Bäckerei war oder wie sehr es der Gesundheit schadet, wenn wir zu viel Süßkram essen, interessiert uns oft nicht. Aber wie kommt es, dass dieses gewollte Nichtwissen ein derart fester Bestandteil unseres Lebens ist?

Mit Ignoranz zum Jackpot

Dass vorsätzliche Ignoranz ein ziemlich alltägliches Phänomen ist, zeigen auch zahlreiche Experimente. Eines der bekanntesten fand im Jahr 2007 statt. Die Versuchspersonen mussten sich damals entscheiden, ob sie lieber fünf oder sechs Dollar erhalten wollen. Fiel die Wahl auf fünf Dollar, erhielt eine andere Person ebenfalls fünf Dollar. Entschieden sich die Teilnehmer für sechs Dollar, erhielt die andere Person nur einen Dollar. Der Clou: Nur ein Teil der Versuchspersonen wusste über diesen Mechanismus Bescheid. Die andere Hälfte durfte selbst entscheiden, ob sie wissen will, welche Folgen ihre Wahl für andere Personen hat.

Das Ergebnis: Von denjenigen, die ungefragt über die Folgen ihres Handelns informiert worden waren, entschieden sich rund 75 Prozent für die kleinere Belohnung und somit dafür, auch einer anderen Person etwas Gutes zu tun. In der anderen Gruppe entschieden sich 44 Prozent der Teilnehmer dafür, nichts über die Folgen ihrer Entscheidung zu erfahren, und sackten gleichzeitig die größere Geldsumme ein. Dass sie die Gewinnsumme einer anderen Person damit erheblich reduziert hatten, wussten sie nicht. Und dementsprechend belastete es sie auch nicht.

Seitdem gab es immer wieder ähnlich aufgebaute Studien. Und alle kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: Im Schnitt entscheiden sich 39,8 Prozent der Versuchsteilnehmer gegen die Information darüber, welche Konsequenzen ihr Handeln hat. Aber warum? Widerstrebt das nicht irgendwo unserer typisch menschlichen Neugier?

Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß

Tatsächlich bringt uns vorsätzliche Ignoranz manchmal deutlich mehr Vorteile als Neugier. „Wir unterscheiden mindestens sechs Funktionen von gewolltem Nichtwissen“, erklärt Ralph Hertwig, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und Vorreiter der Ignoranz-Forschung. Eine der wichtigsten Funktionen des bewussten Nichtwissens besteht ihm zufolge darin, schlechte Nachrichten und somit negative Emotionen zu vermeiden – ganz nach dem Motto „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“.

„So treffen manche Menschen zum Beispiel bewusst die Entscheidung, ihre Stasi-Akten nicht einzusehen, weil sie befürchten, Dinge zu lesen, die sie extrem traurig oder auch zornig machen würden. Beispielsweise, dass jemand, der ihnen nahesteht, mit der Stasi zusammengearbeitet hat“, erläutert Hertwig. Aus Angst, uns die gute Laune verderben zu lassen, sehen wir auch häufig davon ab, Kriegs-Liveticker oder Nachrichten über den Ernst der Klimakrise zu verfolgen. Das bedeutet gleichzeitig aber auch, dass wir uns weniger über die Folgen unseres eigenen Handelns im Klaren sind und somit deutlich ungenierter egoistisch handeln. Wenn ich mich zum Beispiel absichtlich nicht dazu informiere, welche sozialen und ökologischen Konsequenzen es hat, billig produzierte Kleidung zu kaufen, dann muss ich auch kein schlechtes Gewissen für die vergifteten Flüsse und unterbezahlten Arbeiter haben, die unter meinem Kauf leiden. Das macht das Leid aber trotzdem nicht weniger real.

In ethisch weniger bedenklichen Szenarien können wir mit vorsätzlicher Ignoranz aber zum Beispiel auch unsere Spannung aufrechterhalten, etwa indem wir uns vor Spoilern zum neuesten Kinofilm schützen oder uns hinsichtlich unserer Weihnachtsgeschenke überraschen lassen. Bewusstes Nichtwissen hilft uns außerdem dabei, die Informationsflut digitaler Medien zu bändigen. Selektieren wir bewusst, was wir wissen wollen und was nicht, erleichtert uns das den Nachrichtenkonsum erheblich. Und auch sonst lässt sich gewolltes Nichtwissen strategisch einsetzen, sagt Hertwig: „Für jemanden, der eine Leitungsfunktion in der Politik oder Wirtschaft hat, kann es strategisch sehr wichtig sein, wahrheitsgemäß sagen zu können: ‚Von diesen Vorgängen habe ich nichts gewusst‘.“

Mehr Ignoranz für weniger Diskriminierung

Es scheint, als nutze gewolltes Nichtwissen vor allem uns selbst, aber es gibt durchaus Fälle, in denen es auch der Allgemeinheit dient. Ein Beispiel dafür sind sogenannte doppel-blinde Medikamentenstudien. Nur wenn weder der Patient noch der behandelnde Arzt wissen, wer Medikament und wer Placebo erhalten hat, lässt sich die tatsächliche Wirkung eines Medikamentes auch objektiv bewerten. Ähnliches gilt für die Leistung von Musikern. Ob bei der Fernsehshow „The Voice“ oder beim Vorspielen fürs Orchester: Wenn ich nur höre, wie gut eine Person singen oder ein Instrument spielen kann, dann kann ich sie auch nur anhand dieser Leistung beurteilen. Vorurteile hinsichtlich Aussehen oder Geschlecht spielen dann keine Rolle mehr.

Auch vor Gericht kann gewolltes Nichtwissen zu einer faireren Entscheidung führen. Laut amerikanischem Recht dürfen daher Informationen über frühere Verurteilungen eines Angeklagten nicht im Prozess angeführt werden. Die Idee dahinter: Ob ich vor fünf Jahren eine Bank ausgeraubt habe, sagt nichts darüber aus, ob ich auch das Verbrechen begangen habe, das mir jetzt vorgeworfen wird. Wenn aber die Geschworenen von meiner Vorgeschichte erfahren, verurteilen sie mich wahrscheinlich leichtfertiger, auch wenn ich dieses Mal unschuldig bin.

Nichtwissen kann auch schaden

Wie bei so vielem haben auch die Vorteile von vorsätzlicher Ignoranz ihre ethischen Grenzen. Wenn ich zum Beispiel einen HIV-Test mache und das Ergebnis nicht wissen will, aber trotzdem weiterhin ungeschützten Geschlechtsverkehr habe, gefährde ich damit das Wohl anderer. Doch nicht immer ist es so eindeutig, ab wann gewolltes Nichtwissen Dritten schadet. „In einer hoch differenzierten, beziehungsreichen Gesellschaft wie der unseren gibt es eigentlich fast keine Aktivitäten, die keine Auswirkungen auf andere haben“, sagt Christoph Engel, ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn.

Ob wir uns für oder gegen eine Information entscheiden, ist somit stets Abwägungssache. Wir wägen ab, ob wir mit bewusster Ignoranz anderen schaden und auch ob es sich überhaupt lohnt, an eine Information zu gelangen. Wenn ich etwa viel Geld für eine Vorsorgeuntersuchung zahlen müsste, die nicht von der Krankenkasse übernommen wird, sind die Hürden höher, mehr über meine Gesundheit in Erfahrung zu bringen. Auch der zeitliche Aufwand spielt dabei eine Rolle. Erscheint es mir als zu anstrengend, einen Termin zu vereinbaren und im Wartezimmer zu sitzen, entscheide ich mich womöglich ebenfalls gegen eine Vorsorgeuntersuchung, selbst wenn diese nichts kostet.

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