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Wie wir der Evolution ins Handwerk pfuschen
Wir Menschen haben den gesamten Planeten nach unseren Bedürfnissen umgestaltet. Wir haben Äcker angelegt, Flüsse begradigt, Metropolen errichtet. Das hat auch Auswirkungen auf alle anderen Lebewesen auf der Erde. Wenn sie weiterleben wollen, dann müssen sie sich diesen gravierenden Veränderungen anpassen – und zwar in Rekordzeit. Viele Tiere und Pflanzen haben sich daher innerhalb weniger Jahrzehnte in ihrem Aussehen verändert, ohne dass wir es groß mitbekommen haben.

Die Farbe macht‘s
Die Anpassung und Weiterentwicklung von Lebewesen geschieht nach dem Prinzip der natürlichen Selektion. Das bedeutet, dass nur jene Organismen überleben und Nachwuchs zeugen können, die optimal an ihre Umwelt angepasst sind. Während die Evolution normalerweise aber Jahrhunderte bis Jahrtausende braucht, um Aussehen oder andere Merkmale von Spezies zu verändern, hat unser Einfluss diesen Prozess teilweise drastisch beschleunigt.
Ein Beispiel: Im 19. Jahrhundert färbte der Ruß der industriellen Revolution die sonst überwiegend weißen Birkenstämme rund um englische Großstädte auf einmal Schwarz. Das führte dazu, dass der weiß gefärbte Birkenspanner – ein Nachtfalter, der das Weiß der Birken tagsüber als Tarnung nutzt – nun von Vögeln erspäht und gefressen wurde. Die toten Tiere konnten die Gene für ihre weiße Farbe dementsprechend nicht an die nächste Generation weitergeben.
Die einzigen Nachtfalter, die überlebten, waren deshalb die Birkenspanner, die durch eine seltene Mutation schwarze statt weißer Flügel besaßen. Auf den schwarzen Birkenstämmen waren sie ideal getarnt und überlebten lange genug, um ihre Gene an Nachkommen weiterzugeben. Das führte dazu, dass innerhalb weniger Jahrzehnte fast nur noch schwarze Birkenspanner rund um Englands Großstädte flatterten. Sie waren besser an ihre Umwelt angepasst als die weißen Exemplare.

Gamechanger Stadt
Auch unabhängig von industrieller Verschmutzung haben Städte einen großen Einfluss auf das Aussehen und die Fähigkeiten von Tieren. So besitzen zum Beispiel Bänderschnecken in Stadtzentren ein helleres Gehäuse als im Umland, damit sie im wärmeren Großstadtdschungel nicht überhitzen. Denn eine helle Farbe reflektiert mehr Sonnenlicht und nimmt daher weniger Wärmeenergie aus der Strahlung auf. In Puerto Ricos Städten haben die Geckos außerdem klebrigere Zehen und längere Beine als im Urwald, um sich besser an den Gebäudefassaden festhalten zu können.
Ein weiteres Beispiel sind Kohlmeisen, denen in den Städten immer längere Schnäbel wachsen. Das hilft ihnen, besser an die Leckereien im Futterhäuschen zu kommen. Außerdem können Stadtratten mittlerweile selbst die sonst für sie eher unbekömmliche stark fett- und zuckerhaltige Nahrung verdauen – sie haben sich an unsere Essensreste angepasst. Und in den U-Bahn-Tunneln von London hat sich sogar eine komplett neue Unterart von Stechmücken entwickelt, die perfekt an die dortigen Bedingungen angepasst ist.

Jagd wirkt schrumpfend
„Ohne es zu merken, sind wir in unserer Macht ziemlich gottähnlich geworden. Wir kontrollieren, was lebt und stirbt“, fasst JSTOR Daily-Autor Matthew Wills den menschlichen Einfluss auf die Evolution zusammen. Doch längst nicht nur der Städtebau hat diesen prägenden Effekt. Ein weiterer wichtiger Treiber der Evolution im Turbomodus ist die Jagd. Seit jeher entscheiden wir dabei ganz aktiv, was leben darf und was sterben muss. Anders als Wölfe oder Bären töten wir aber nicht die Alten und Schwachen, sondern die mit dem größten Geweih oder der imposantesten Mähne.
Doch indem wir nur die großen, starken Exemplare aus einer Herde oder einem Rudel entfernen, verändern wir auch das Aussehen der nachfolgenden Generationen. Nun können sich nämlich auf einmal nur noch die kleinen, schmächtigen Männchen fortpflanzen, da sie für Jäger uninteressant sind und am Leben gelassen werden. In den nachfolgenden Generationen nehmen daher die „Kleinwuchs“-Gene überhand, wodurch die stark bejagten Wildtiere im Laufe der Zeit kleiner werden. Dieser Effekt ist bei vielen typischen Trophäentieren wie Hirschen oder Dickhornschafen zu beobachten. Sie sind durch Bejagung im Schnitt um 18 Prozent geschrumpft.
Eine besondere Veränderung haben auch die Elefanten in Mozambik durchlaufen. Viele von ihnen besitzen mittlerweile keine Stoßzähne mehr. Es handelt sich dabei um eine Anpassung an den Elfenbeinhandel. Da die Wilderer es nur auf Exemplare mit Stoßzähnen abgesehen haben, überleben jene, die durch eine seltene Mutation keine besitzen. Und genau diese Tiere geben ihre Gene dann weiter, sodass sich die Stoßzahnlosigkeit immer weiter ausbreitet.

Gerettet, aber zu welchem Preis?
Die verschiedenen Anpassungen helfen den Tieren zwar, in einer vom Menschen dominierten Welt zu überleben, doch sie bringen auch verschiedene Nachteile mit sich. So sorgt die Evolution im Turbomodus vielerorts zum Beispiel dafür, dass der lokale Genpool verarmt und die Tiere anfälliger für Krankheiten werden.
Die Stoßzahnlosigkeit von Elefanten hat sogar Auswirkungen auf ganze Ökosysteme. Denn ohne Stoßzähne können die großen Dickhäuter schlechter nach Nahrung graben und Rinde von Bäumen abschälen. Das führt dazu, dass sie die Ausbreitung der Wälder nicht mehr so gut eindämmen können wie früher, wodurch diese langfristig die Savanne überwuchern.