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50 Jahre Rock und Pop auf Fehmarn: Gedenken an Jimi Hendrix
Vor 50 Jahren, vom 4. bis 6. September 1970, fand das erste mehrtägige Popfestival auf dem europäischen Kontinent statt: das „Love-and-Peace-Festival“ auf der Ostseeinsel Fehmarn, der drittgrößten deutschen Insel. Angekündigt wurde das Inselereignis mit einigen, amerikanischen Mega-Bands und dem Auftritt Jimi Hendrix', als „europäisches Woodstock“. Obwohl das Festival als europäische Premiere chaotisch verlief, lockte es damals etwa 30.000 Besucher an.
Ein Festival unter Extrembedingungen
Die drei jungen Veranstalter Helmut Ferdinand, Christian Berthold und Tim Sievers planten 1970 eine deutsche Antwort auf das legendäre Woodstock-Festival: Unter anderem traten Ginger Baker’s Air Force, Mungo Jerry, Sly and the Family Stone und Canned Heat auf, aber auch Rio Reiser und seine Band Ton Steine Scherben – mit ihrem allerersten Live-Konzert – sowie andere deutsche Gruppen. Besonders große Hoffnung steckten sie in den Auftritt von Jimi Hendrix. Tatsächlich gab er beim Fehmarn-Festival sein letztes Konzert vor großem Publikum, bevor er am 18. September 1970 in London starb.
Im Vergleich zum Isle of Wight-Festival mit etwa 700.000 Besuchern, lockte die Veranstaltung auf der deutschen Ostseeinsel lediglich etwa 30.000 Menschen an. Das Festival verlief chaotisch, vor allem Regen und Sturm machten den Veranstaltern einen Strich durch die Rechnung. Einige Bands kamen nicht, die Technik funktionierte schlecht und Hamburger Rocker drangsalierten als „Ordner“ das Publikum. Außerdem verspätete sich Hendrix, der die Wut der Besucher aber mit seinem erstklassigen Auftritt wieder gutmachte. Durch all das standen die drei Veranstalter anschließend vor einem riesigen Schuldenberg. Trotz der damaligen Enttäuschung legte das Fehmarn-Festival den Grundstein für viele heutige Musikveranstaltungen in Europa. Aber wie beeinflusste es die Menschen?
Der Reiz des Zusammenseins
Um herauszufinden, welche Auswirkungen das „Love-and-Peace- Festival“ auf die damalige Gesellschaft, die Politik und die Wirtschaft hatte, haben Frank Hillebrandt von der FernUniversität in Hagen mit seiner Kollegin Amela Radetinac die Hintergründe des Musikevents erforscht. Um Zugang zu den Geschehnissen damals zu bekommen, erhielten sie vor Ort auf Fehrmarn Unterstützung: „Einmal, weil es eine ‚Fehmarn-Festival-Group‘ gibt, die sich der Erinnerung widmet. Dieser eingetragene Verein hat uns zwei ‚Veteranen‘ vermittelt, die wir interviewt haben. Zum anderen gibt es ein sehr schönes Inselarchiv“, so Hillebrandt. Die zwei Einheimischen waren als Rettungsschwimmer und Polizist Gäste auf dem Festival.
Mit der Musik und der Veranstaltung konnten sie allerdings eher wenig anfangen. Viele erinnern sich heute hauptsächlich an Legende Jimi Hendrix. „Das Festival war Subkultur und damit im Bewusstsein der Bevölkerung nichts Erinnerungswertes“, so die Einheimischen. Wohl aber für die, die für das Event extra auf die Insel kamen.
Die Menschen, die zunächst keinen direkten Zugang zu der gespielten Rock- und Pop-Musik fanden, lockte das Festival damit, dass es die Menschen zusammenbrachte. „Entscheidender Grund für die Popularität eines Festivals ist, dass man viele um sich weiß, die ‚so sind wie ich‘. Das hört man auch von Woodstock-Zeitzeugen“, so der Soziologe. Demnach ging es vor allem darum, mit vielen zusammen zu sein, „die man zu sich selbst zählt, und ein großes ‚Wir‘ zu haben“.
Nichts, was es vorher gab
„Die Voraussetzungen waren eigentlich so schlecht, wie sie nur sein konnten: Regen, Gewitter, nichts mehr zu essen, keine vernünftige sanitäre Versorgung. Aber man hat es gemeinsam hinbekommen“, sagt Hillebrandt. Auch Woodstock ist dafür ein Beispiel: „Für die Kunst, viele zu sein, die nichts mehr hatten, keine Nahrung, die sich trotzdem eine schöne Zeit machten“ – genau das reizte die Menschen. Festivals waren in dieser Hinsicht etwas völlig Neues.
Für viele Besucher des Festivals war es ein Ausdruck des Aufbruchs „als Rebellion, als Gegenkultur, als Ausstieg aus der Gesellschaft“: „Was die anderen machten, war ihnen eigentlich egal. Sie wollten der Welt zeigen: Wir wollen es nicht so machen wie Ihr – um neun ins Büro und um fünf wieder raus", erklärt Hillebrandt. "Zerstören wollten sie nichts. Sie waren friedliebend und konstruktiv, gegen den Vietnam-Krieg und gegen den Mainstream.“ Und die Bewegung wirkte sich nach den Analysen der Wissenschaftler auch auf andere Lebensbereiche aus.
Noch heute spürbare Auswirkungen
„Es anders zu machen hat sich ja sogar in der heutigen Ökonomie durchaus durchgesetzt! Wo gibt es in der Arbeitswelt noch solch hierarchische Strukturen wie früher? Die digitalen Neugründungen der letzten Jahrzehnte haben sich sehr stark auf die Hippie-Kultur bezogen“, sagt der Experte. „Es gibt Kolleginnen und Kollegen in der Soziologie, die sagen, das Silikon Valley sei eigentlich ein Ausfluss von Woodstock, weil erst die wenig hierarchische Arbeitsstruktur die ganze Kreativität hervorgebracht habe.“ In Gesellschaft und Politik sieht er einen direkten Weg von den ersten Festivals und ihrem Lebensverständnis über die Sponti-Bewegung zu den Grünen.
Hillebrandt und seine Kollegin sind sich einig, dass das „europäische Woodstock“ eine große Bedeutung für gesellschaftliche Entwicklungen hatte. „Das Love-and-Peace-Festival ist ja ein Nachfolgeereignis zu Woodstock, das gar nicht so viele kennen.“ Das Investment der Veranstalter vor 50 Jahren, renommierte Bands und ganz besonders Hendrix verpflichtet zu haben, habe sich gelohnt. „Hendrix‘ letzter Auftritt ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass man sich noch heute des Festivals so stark erinnert“, so Hillebrandt. Hendrix wurde auch in Deutschland zu einer Ikone der Popkultur.
Das Musikfestival hat sich längst als gängiges Format etabliert - trotz des Scheiterns auf Fehmarn. Die Zahl der Festivals hat seither weltweit stark zugenommen, vor dem Beginn der Corona-Pandemie waren es tausende jährlich. Sogar in heutigen Stadtplanungen werden große Musikveranstaltungen bedacht. So sind sie ein ganz wichtiger Bestandteil des Rock und Pop geworden, aber jetzt professionell organisiert: „Das Chaotische – Zelten im Schlamm etwa – wird heute zum Programm, das wissen die Leute vorher.“