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Die kulturellen Grenzen der Medizin
Ein Loch im Bauch
Haben Sie schon einmal versucht, in einer Fremdsprache zu erklären, ob Ihr Kopfschmerz schneidend, stechend, pulsierend, scharf, dumpf, drückend, reißend, ziehend, hämmernd oder bohrend ist? Für eine solch detaillierte Beschreibung reichen ein paar Sprachbrocken aus dem Reiseführer nicht aus.
Selbst wenn der Patient die Landessprache einigermaßen passabel beherrscht, kann es sein, dass Arzt und Patient nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Denn jeder Mensch trägt - sozusagen als unsichtbares Reisegepäck - ein ganzes Bündel kultureller Werte mit sich, die ihm von klein auf vermittelt wurden. Auch Mediziner sind keine „Halbgötter in Weiß“, sondern Kinder ihrer Kultur. Ein ausländischer Arzt in einem Entwicklungsland, dessen Patienten sich weigern, eine simple Leistenbruch-Operation vornehmen zu lassen, wird diese Reaktion vermutlich nicht verstehen. Vielleicht erscheint ihm diese Haltung als „rückständig“. Ein traditioneller Heiler würde ihm erklären, dass seine Patienten Angst haben, durch die Operationswunde könnte ein Dämon in den Körper eindringen.
Gesundheit und Krankheit gehören zu den frühesten Erfahrungen, die jeder Mensch macht. Wir lernen unbewusst aus dem Verhalten unserer Angehörigen. So wachsen wir in das Wertesystem unserer Gesellschaft hinein. Krankheiten werden gleichsam durch eine Art kulturelle Brille wahrgenommen.
Wie wir unser Unbehagen fühlen, hängt mit unserer Kultur zusammen. So löst Stress die unterschiedlichsten Krankheiten aus. Während Mitteleuropäer oft mit Herz-Kreislauf-Beschwerden reagieren, leiden Südosteuropäer eher unter Magengeschwüren. Dagegen klagen Menschen aus dem islamischen Kulturkreis häufig über Seh- oder Hörstörungen. Wenn wir Deutschen traurig sind, wird unser Herz schwer. Ein Türke würde dagegen sagen: „Ich habe ein Loch im Bauch.“ Ein Ostasiate empfände die Seelenqualen gar an der Niere.
Das „Mamma-Mia-Syndrom“
Andere Länder, andere Sitten - das gilt auch für die Schmerzempfindlichkeit. Bei einem Experiment wollten Wissenschaftler herausfinden, wie gut Menschen verschiedener Nationalitäten Schmerzen ertragen können. Sie fügten Italienern, Israeliten, Irländern und US-Amerikanern leichte Stromstöße zu und steigerten diese allmählich. Am schnellsten erreichten die Versuchspersonen italienischer Herkunft die Schmerzgrenze.
Hinzu kommt, dass Menschen verschiedener Kulturen ihre Gefühle ganz unterschiedlich zum Ausdruck bringen. In Deutschland ist es üblich, sich in der Öffentlichkeit Tränen zu verkneifen. Wir bemühen uns, dem Arzt möglichst sachlich und präzise Auskunft zu geben. Sätze wie „ein Mann weint nicht“ oder „ein Indianer kennt keinen Schmerz“ prägen unser Weltbild. Dagegen drücken unsere Nachbarn aus dem Mittelmeerraum ihr Leid meist ganz ungehemmt aus. Weinen, Jammern oder Stöhnen sind für sie kein Zeichen von Schwäche, sondern ganz natürliche Bestandteile der Kommunikation.
Kennt ein Arzt diesen kulturellen Code nicht, schätzt er unter Umständen seinen Patienten völlig falsch ein. Möglicherweise hält er ihn für hysterisch, für depressiv oder einen Hypochonder. Abschätzige Krankheitsbezeichnungen wie „Mamma-Mia-Syndrom“, „Türkenbauch“, „anatolischer Kopfschmerz“ oder „Morbus Bosporus“ leisten Vorurteilen Vorschub. Oft wird dabei übersehen, dass den Schmerzen eine wirkliche körperliche Ursache zugrunde liegt. So können Fehldiagnosen dazu führen, dass Krankheiten unbehandelt bleiben und chronisch werden.