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Höchstleistungen: Über alle Grenzen hinweg

Höher, schneller, weiter – der Mensch strebt nach Rekorden und Höchstleistungen und verschiebt dabei die Grenzen des Möglichen immer weiter nach oben. Der zweifache Olympiasieger Armin Hary lief 1960 als erster Sprinter die 100 Meter in 10,0 Sekunden. Alpin-Legende Reinhold Messner stand 1986 als erster Mensch auf allen 14 Achttausendern dieser Erde ohne Zuhilfenahme von künstlichem Sauerstoff. Gerlinde Kaltenbrunner, eine der weltbesten Extrembergsteigerinnen erreichte dieses Ziel im August 2011 als erste Frau. Die „Wüstenläuferin“ Anne-Marie Flammersfeld setzt sich das Ziel, als erste Frau beim 4 Deserts Run vier Wüsten über eine Gesamtstrecke von 1000 Kilometern in einem Jahr zu durchlaufen. Was ist der Motor, der Menschen mitunter ungeheure Strapazen, Risiken und Kosten auf sich nehmen lässt, um immer wieder über sich hinauszuwachsen?
von wissen.de-Autorin Eva Hammächer

2010 lernt die 34-jährige Personal Trainerin Anne-Marie Flammersfeld im Urlaub in Argentinien einen Ultraläufer kennen. Er ist damals gerade auf dem Weg in die Antarktis zum 4 Deserts Race, einem der extremsten Ultraläufe der Welt. Seine Schilderungen faszinieren die Absolventin der Deutschen Sporthochschule Köln und ambitionierte Läuferin so sehr, dass sie das Wüstenabenteuer selbst erleben möchte. 2011 wird aus einem Plan Wirklichkeit: Flammersfeld beginnt, sich akribisch auf diese physisch wie psychisch anspruchsvolle Herausforderung vorzubereiten: Mit einem acht Kilo schweren Rucksack gefüllt mit Kaminholz, Tetrapacks und einem Schlafsack auf dem Rücken läuft sie bis zu 160 Kilometer pro Woche, um die vier Etappen über jeweils 250 Kilometer durch die trockenste, die windigste, die heißeste und die kälteste Wüste zu meistern. Winterläufe bei bis zu -30 Grad zuhause in St. Moritz bereiten sie auf die Kälte in der Antarktis vor, mit dem Stepper in der Sauna simuliert sie die brüllende Hitze der Sahara. 2012 ist sie am Start – und das intensive Training zahlt sich aus: Bei den ersten drei Läufen durch die Wüsten Atacama, Gobi und Sahara erreicht sie mit Abstand als erste Frau das Ziel – und noch weit vor den allermeisten Männern im Feld. Selbst motivierten Läufern stellt sich hier die Frage: Warum tut man sowas? Und was macht den Reiz einer solchen Extrembelastung aus?

 

Die Frage nach dem Warum

Alles, was wir tun, ist von unseren Bedürfnissen geleitet: Von den biologischen Grundbedürfnissen wie Hunger und Durst sowie von psychologischen und sozial bedingten Motiven, wie sozialem Anschluss, Macht oder Leistung. Die Leistungsbereitschaft kann zwar durch äußere Anreize (extrinsisch) beeinflusst und gesteigert werden, für dauerhafte Leistungen oder gar Höchstleistungen bedarf es jedoch einer hohen intrinsischen Motivation, also eines starken inneren Antriebs. „Menschen, die Herausragendes leisten, berichten übereinstimmend, dass sie zwar nahezu ihr gesamtes Leben mit Arbeit verbracht haben, jedoch keinen einzigen Tag wirklich gearbeitet hätten. Sie spüren einfach eine unerschöpfliche Begeisterung, Faszination und Freude an ihrer Tätigkeit.“, schreibt Sportwissenschaftler und Sportpsychologe Michael Draksal in seinem Buch „Psychologie der Höchstleistung – Dem Geheimnis des Erfolges auf der Spur“. Bei Anne-Marie Flammersfeld ist es die Freude am Laufen, die sie immer wieder aufs Neue motiviert und sowohl beim Training als auch im Rennen selbst bei der Stange hält. Aber es ist nicht nur das: „Mich reizt das Abenteuer und das Reisen, aber auch die Suche nach den eigenen Grenzen und die Frage, was ich eigentlich schaffen kann“, berichtet sie. „Aber ohne die Begeisterung fürs Laufen wäre so ein Lauf völlig unmöglich.“

 

Begeisterung als neurobiologischer Schlüssel zum Erfolg

In dieser Begeisterung sieht Gerald Hüther, Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen den Schlüssel zur Motivation: „Begeisterung ist Doping für Hirn und Geist.“, titelt Hüther auf seiner Homepage. Denn: Begeistert man sich für eine Sache, dann werden die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert. Es werden neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, die nachgeschaltete Nervenzellverbände dazu bringen, verstärkt bestimmte Eiweiße herzustellen. Die wiederum bilden neue Kontakte und festigen diejenigen Verknüpfungen, die im Hirn zur Lösung eines Problems oder zur Bewältigung einer neuen Herausforderung aktiviert worden sind. „Jeder kleine Sturm der Begeisterung führt gewissermaßen dazu, dass im Hirn ein selbsterzeugtes Doping abläuft.“, so Hüther. Und nur so stellt sich die Bereitschaft zu Höchstleistungen ein. Der innere Antrieb ist also auf lange Sicht entscheidend für den Erfolg. Äußere Anreize wie Belohnung oder Strafe sind aus Hüthers Sicht „hirntechnischer Unsinn“. Die innere Haltung, das „Mind Set“ entscheidet über Erfolg und Misserfolg. Natürlich neben langjähriger Erfahrung sowie – im Fall von Extremsportlern – ausgeprägten motorischen Fertigkeiten wie Ausdauer, Kraft und Technik, die im sportlichen Bereich die Basis bilden.

 

Der Wille versetzt Berge

„Um ein Rennen wie den 4 Deserts Run zu bestehen, ist der Kopf der entscheidende Faktor.“, so Wüstenläuferin Flammersfeld. „Wenn der Wille stark genug ist, dann machen auch die Beine mit.“ Doch was tun, wenn der Kopf nicht mitspielen will? Hierzu hat Flammersfeld mit ihrer Mentaltrainerin entsprechende Techniken entwickelt, die zum Einsatz kommen, wenn eine Krise im Anmarsch ist. Dann startet sie ihr Kopfkino: „Ich stelle mir dann Orte vor, die ich gerne mag.“ Beim Sahara-Lauf meditierte sie sich so aus der brüllenden Hitze an den winterlichen St. Moritzer See. Oder sie denkt sich lustige Geschichten aus, um die Krise förmlich wegzulachen und wieder positive Energien freizusetzen. Und sie setzt sich Zwischenziele: „Wie bei einem Computerspiel – ist der nächste Checkpoint erreicht, dann bin ich ein Level weiter.“

 

Flow – im Spannungsfeld zwischen Angst und Langeweile

Ziele sind ein entscheidender Motivationsfaktor. Doch sie müssen realistisch sein. Der amerikanisch-ungarische Psychologe Mihaly Csikzentmihalyi vertritt in seiner Theorie der menschlichen Motivation die These, dass der Mensch sich im Spannungsfeld zwischen Angst und Langeweile bewegt. Stimmen die Anforderungen einer Situation mit den Fähigkeiten einer Person überein, dann kommt es zum flow-Erleben, bei dem man voll und ganz in einer Sache aufgeht. Das Geheimnis des Glücks liegt für Csikzentmihalyi in einem schmalen Kanal zwischen Über- und Unterforderung. Steigen die persönlichen Fähigkeiten, dann bleibt der flow-Effekt aus. Wer also diesen Glückszustand dauerhaft erleben möchte, der muss sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen und ständig die eigenen Fähigkeiten verbessern, um sie bewältigen zu können. Die größte Herausforderung des Lebens liegt für Csikzentmihalyi darin, etwas zu finden, das einem wirklich Freude macht, bei dem man voll und ganz „im Tun aufgeht“.

Höhenbergsteigerin Gerlinde Kaltenbrunner beschreibt in ihrem Buch „Ganz bei mir: Leidenschaft Achttausender“ ihre Motivation, sich immer wieder auf die höchsten Gipfel dieser Erde zu begeben: „Wenn ich in die Welt der hohen Gipfel eintauche, bin ich zufrieden, ausgeglichen, zuversichtlich und voller Freude. Beim Bergsteigen bin ich entschlossen, ich erlebe mich eigenständig und selbstbestimmt, fühle mich kompetent. (…) Am Berg habe ich ein anderes Lebensgefühl als im Tal. Ich bin in meinem Element. Das Bergsteigen ist einfach mein Leben.“ Kaltenbrunners Beschreibung trifft wohl ziemlich genau das, was Csikzentmihalyi unter dem Gefühl des „im Flow sein“ versteht.

 

Heute noch extrem – morgen schon normal

Dieses berauschende und süchtig machende flow-Erleben scheint für die meisten Extremsportler der Grund zu sein, ihre persönliche Komfortzone immer wieder zu verlassen, um ihre eigenen Leistungsgrenzen zu verschieben. „Es ist also nicht nur die Sucht nach Anerkennung, die viele Extremsportler immer wieder antreibt, sondern vielmehr die Suche nach einem neuen Glücksgefühl und einer intensiven Lebensfreude, die sich einstellt, wenn Ziele realisiert werden können, die zunächst unmöglich erscheinen.“, schreibt Ultraläuferin Iris Hadbawnik in ihrem Buch „Bis ans Limit – und darüber hinaus“, in dem sie zehn Extremsportler porträtiert und der Frage nachgeht, was diese dazu treibt, sich immer wieder in den Grenzbereich menschlicher Fähigkeiten zu begeben. Anne-Marie Flammersfeld, die vor dem 4 Deserts Race lediglich zwei Marathons gelaufen ist, dachte noch bis 2010, eine Distanz von 42,195 Kilometer sei extrem. „Aber die Definition von ‚extrem‘ verschiebt sich und das Extreme wird irgendwann normal.“ Diese individuellen Grenzverschiebungen stärken das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und wirken bis in den Alltag. Denn seine eigenen Stärken und Schwächen und damit seine Grenzen zu kennen, macht auch gelassener. Und vielleicht ist genau das die Scheibe, die man sich von Extremsportlern abschneiden kann – ohne gleich in die Wüste oder auf einen Achttausender zu müssen.

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