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Wie psychische Erkrankungen entstehen

Psychische Erkrankungen nehmen zu – und sie können im Prinzip jeden treffen. Aber was genau löst sie aus? Und warum erkrankt nicht jeder Mensch an Depression, Posttraumatischen Belastungsstörungen, Zwängen oder auch Schizophrenie? Liegt es an der genetischen Veranlagung, Umweltfaktoren oder eher an alltäglichem Stress? Das Stress-Vulnerabilitätsmodell liefert Antwort.
CMA, 10.10.2025
Symbolbild Psychsiche Gesundheit

© stellalevi, iStock

In Deutschland erfüllt jeder vierte Erwachsene im Laufe eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Am häufigsten handelt es sich dabei um Angststörungen, Suchtprobleme oder Depressionen. Aber auch Krankheiten wie Schizophrenie, die bipolare Störung und Zwangsstörungen sind gar nicht mal so selten. Schizophrenie betrifft beispielsweise etwa ein Prozent der Bevölkerung. Sie ist damit ähnlich häufig wie Zöliakie, eine chronische Unverträglichkeit gegenüber dem Weizeninhaltsstoff Gluten. Aber wie entstehen die mentalen Krankheiten? Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf das Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren.

Gene oder Umwelt – was beeinflusst unser Risiko?

Die Forschung zeigt: Sowohl Genetik als auch Umweltfaktoren spielen eine Rolle. Ein sehr populäres Bild ist das Stress-Vulnerabilitätsmodell. „Vulnerabilität“ bedeutet hier Verletzlichkeit – also die genetische Anfälligkeit für eine psychische Erkrankung, aber auch die Beeinflussung durch soziale Faktoren wie niedriges Einkommen, begrenzte Bildung oder schwierige familiäre Umstände. Kurz: Faktoren, die über das ganze Leben relativ konstant bleiben. Der Einfluss dieser ungünstigen Vorbedingungen zeigt sich unter anderm daran, dass viele psychische Erkrankungen gehäuft in Familien auftreten. Eine solche erhöhte Vulnerabilität reicht allerdings noch nicht aus, um eine Störung zu entwickeln.

Illustration des Vulnerabilitäts-Stress-Modells
Illustration des Vulnerabilitäts-Stress-Modells mit Wasserströmen als Belastungsfaktoren und Füllstand als Maß für die Anfälligkeit.

© SapereAudete / CC0

Wenn der Stress zu viel wird

Studien an eineiigen Zwillingen, die getrennt aufgewachsen sind, zeigen: Hat ein Zwilling eine psychische Erkrankung, ist das Risiko für den anderen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich höher. Trotzdem entwickelt er nicht automatisch dieselbe Störung. Es braucht zusätzliche Belastungen oder Stress, damit die Erkrankung tatsächlich ausbricht. Das können der Tod eines geliebten Menschen oder eine Trennung sein, aber auch chronische Schmerzen oder eine körperliche Erkrankung.

Wir können uns das wie ein Fass vorstellen: Die genetische Veranlagung legt fest, wie voll es von Anfang an ist. Kommt ein belastendes Ereignis hinzu, fließt weiteres Wasser hinein. Bei Menschen mit höherer genetischer Anfälligkeit reicht schon wenig zusätzlicher Stress, damit das Fass überläuft – und eine psychische Erkrankung entsteht. Wer von Natur aus weniger „Wasser“ im Fass hat, braucht dagegen deutlich mehr Belastung, um zum Beispiel eine Depression zu entwickeln.

Was uns schützt

Aber es gibt auch Schutzfaktoren, die das Fass „vergrößern“ können. Solche Schutzfaktoren sind alles, was hilft, Belastungen abzufedern – zum Beispiel Freunde, Psychotherapie oder gesunde Routinen. Manchmal braucht es auch eine medikamentöse Therapie, damit Erkrankte nicht rückfällig werden. Auch Psychoedukation hilft, also die Vermittlung von Wissen über das Krankheitsbild an die Betroffenen und ihre Angehörigen. Hier wird das Stress-Vulnerabilitätsmodell als leicht verständliches Bild gerne eingesetzt.

Kritik am Modell

Doch so anschaulich das Modell auch ist, es bildet nicht die gesamte Realität ab. Es liefert beispielsweise keine umfassende Erklärung für alle psychischen Erkrankungen, trifft keine Aussage darüber, wie stark die einzelnen Faktoren wie Genetik oder Stress gewichtet werden. Und es beschreibt nicht, wie diese Faktoren miteinander interagieren. Psychische Erkrankungen sind daher so individuell wie die von ihnen Betroffenen – es gibt kein Schema F.

Trotz seiner Grenzen bleibt das Stress-Vulnerabilitätsmodell aber ein gutes Werkzeug, um psychische Störungen zu verstehen und zu veranschaulichen, wie wir Menschen unterstützen können, bevor ihr „Fass“ überläuft.

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