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Wird die Menschheit dümmer?

Wenn man die Welt um uns herum betrachtet, den wissenschaftlichen, den medizinischen, den technischen Fortschritt, dann besteht keinerlei Zweifel: Die Menschheit löst immer komplexere Probleme und entwickelt sich kontinuierlich weiter. Kann es da überhaupt sein, dass wir dümmer werden? Wie kommt man auf so eine Idee und wo könnte die Ursache dafür zu finden sein?
KMI, 13.06.2022
Symbolbild Intelligenz

Pict-Rider, GettyImages

Insgesamt ist die Frage nach Dummheit oder Intelligenz wohl nur sehr schwierig zu beantworten, denn Intelligenz lässt sich nicht so einfach messen wie unsere Schuhgröße oder das Körpergewicht. Intelligenz ist etwas unheimlich Komplexes und daher schwierig zu erfassen – versucht wird es trotzdem. Die bekannteste Methode sind Intelligenztests, die den Intelligenzquotienten, den sogenannten IQ, bestimmen sollen.

Aber warum stellen wir uns diese Frage überhaupt? Kann es tatsächlich sein, dass die Menschen dümmer werden? Auslöser dafür ist die Beobachtung, dass die Menschen mancher Länder in den letzten Jahren immer schlechter in Intelligenztests abschneiden als erwartet.

Flynn-Effekt

Das ist deswegen überraschend, weil es dem sogenannten Flynn-Effekt widerspricht. Der neuseeländische Psychologe und Politikwissenschaftler James Flynn entdeckte in den 1980er-Jahren, dass die gemessene Intelligenz der Bevölkerung weltweit jedes Jahr zunimmt, und das schon seit Intelligenztests durchgeführt werden.

Mit diesen werden bereits seit über 100 Jahren geistige Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen überprüft. Dazu zählt zum Beispiel die Geschwindigkeit mit der Probleme gelöst werden können, aber auch das Sprachverständnis, das Allgemeinwissen, das räumliche Vorstellungsvermögen oder logisches Denken spielen eine Rolle. Die Tests dienen dazu, die geistigen Fähigkeiten der einzelnen Menschen vergleichen zu können, und zum Beispiel zu erkennen, ob ein Kind gefördert werden sollte, weil es eine Lernschwäche hat oder überdurchschnittlich begabt ist.

Das Ergebnis dieser Tests ist dabei eine Punktzahl, der sogenannte Intelligenzquotient. Flynn fand heraus, dass die durchschnittliche Punktzahl jedes Jahr um 0,3 Punkte ansteigt. Das klingt erstmal nicht viel, in 100 Jahren macht das aber schon Unterschied von 30 Punkten. Und das ist für einen Intelligenztest richtig viel, denn dies entspricht jeweils dem Punkteabstand zwischen einer Lernbehinderung, einer normalen oder einer Hochbegabung. Deshalb müssen Intelligenztests über die Zeit immer wieder angepasst werden, damit die Punktzahl nicht fälschlicherweise zu hoch ausfällt und zum Beispiel Lernschwächen nicht mehr erkannt werden könnten.

Das Rätsel des Anstiegs

Über die Ursachen, warum die Menschheit schlauer zu werden scheint, streiten sich die Wissenschaftler bis heute und es existieren viele verschiedenen Theorien. Zu den möglichen Ursachen zählen beispielsweise eine immer bessere Ernährung und Gesundheitsvorsorge. Denn besonders für die Gehirnentwicklung von Kindern ist es wichtig, dass sie genügend und im besten Fall gesundes Essen zur Verfügung haben und zudem nicht ständig mit Krankheiten kämpfen müssen. Dazu kommt, dass heutzutage auch immer mehr auf die Ernährung schon während der Schwangerschaft geachtet wird, so dass auch hier bereits eine optimale Entwicklung gefördert wird.

Als weiterer Grund wird auch eine immer bessere Schulbildung angesehen, die die Kinder ganz anders fordert und fördert als früher. Auch im Alltag sollen die Menschen heute viel wissenschaftlicher und logischer denken. Diese „Forscherbrille“, wie das Phänomen von Flynn selbst genannt wurde, wird dabei wohl schon von Kindertagen an gefördert und belohnt. Dazu tragen beispielsweise typische Rätselzeitschriften, Wissenssendungen oder Knobelspiele bei. Daher könnten wir heute einfach besser auf die typischen Fragen eines Intelligenztests vorbereitet sein, ohne dass wir dazu schlauer als unsere Vorfahren sein müssten.

Symbolbild Intelligenztest
Wissenschaftler vermuten, dass wir heute im Durchschnitt abstrakter denken als frühere Generationen, Beispielsweise können wir viel schneller Muster erkennen und diese spielen bei vielen Tests eine wichtige Rolle.

riskms, GettyImages

Werden wir wieder dümmer?

Umso verwunderlicher ist es, dass Forscher vor kurzem feststellen mussten, dass der Flynn-Effekt „schwächelt“. Sie analysierten viele verschiedene Intelligenztests und konnten so sehr große Datenmengen über einen langen Zeitraum aus verschiedenen Ländern auswerten. Dabei kam heraus, dass der durchschnittliche IQ-Wert in Ländern wie Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Norwegen, Österreich und Großbritannien in den letzten Jahren entweder nicht so stark wie erwartetet anstieg, gleichblieb oder sogar abnahm.

Am stärksten traf es dabei wohl Norwegen: Im Jahr 2018 veröffentlichten norwegische Forscher eine Studie, in der sie über 700.000 Intelligenztests aus 30 Jahren ausgewertet hatten und feststellten, dass der IQ seit Mitte der 1970er-Jahre um zwei Punkte pro Jahrzehnt gesunken war. Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich zudem auch in Finnland, Schweden oder Estland.

In anderen Ländern nehmen die Fähigkeiten dagegen nur in speziellen Bereichen ab. In Deutschland und Österreich zum Beispiel geht es seit 1995 mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen bergab. Mit dem Wortschatz und dem allgemeien IQ dagegen ging es im gleichem Zeitraum sogar bergauf. Ein anderes wiedersprüchliches Beispiel ist Großbritannien, wo die Kinder vor allem bei Aufgaben zum abstrakten Denken immer schlechter abschneiden, umfassendere IQ-Tests aber in die umgekehrte Richtung zeigen.

Um die Sache noch verwirrender zu machen, ist in anderen Ländern von dem IQ-Rückgang nichts zu spüren. In den USA beispielsweise scheint sich der Flynn-Effekt ungebremst fortzusetzen.

…und, wenn ja warum?

Auch hier sind die Gründe dafür nicht wirklich klar, so dass die Wissenschaftler sich nun damit beschäftigen, nach Ursachen für das scheinbare Absinken der Intelligenz zu forschen. Das einizige, was die Wissenschaftler mit Sicherheit ausschließen, ist eine Genveränderung als Ursache. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass sich eine Genveränderung in so kurzer Zeit in einem breiten Bevölkerungsquerschnitt zeige.

Als beliebte Erklärungen galten stattdessen lange zwei gesellschaftliche Entwicklungen: Zum einen bekommen Menschen mit einem niedrigen IQ mehr Kinder als Eltern mit hohem IQ, zum anderen schneiden Einwanderer aus Nicht-Industriestaaten schlechter in Intelligenztests ab als Einheimische. Diese beiden Faktoren würden die durchschnittliche IQ-Punktzahl immer weiter nach unten ziehen. Forscher aus Wien konnten diese Vermutungen allerdings im Jahr 2018 widerlegen.

Sie sind stattdessen der Meinung, dass die Menschen häufig nur in einzelnen Bereichen der Intelligenztests immer besser werden und die Fähigkeiten in anderen Bereichen gleichzeitig abnehmen. Diese Entwicklung lässt sich ihrer Meinung nach auch in den immer spezialisierteren Studiengängen und Berufsgebieten wiederfinden. Solange wir uns zumindest in einzelnen Bereichen immer weiter deutlich verbessern konnten, stieg die Gesamtpunktzahl weiterhin an. Nun soll laut den Forschern aber ein so hohes Niveau erreicht worden sein, dass wir uns in den speziellen Bereichen nicht mehr genug verbessern können, um Verluste in anderen Bereichen auszugleichen. Daher steigt der Gesamt- IQ-Wert nicht mehr weiter an oder beginnt sogar zu sinken.

Ebenfalls diskutiert wird darüber, ob das Ausbildungsniveau in den Schulen sinkt und die Kinder nicht mehr so stark gefordert werden. Eine andere Erklärung könnte auch die Digitalisierung sein, die unser Denken verändern soll. Wir sind es gewohnt, uns die Dinge nicht mehr zu merken, sondern zu Googlen und uns sogar Wegstrecken von einem Navi vorsagen zu lassen. Durch die ständige Benutzung des Handys soll zudem unsere Aufmerksamkeitsspanne und Konzentrationsfähigkeit abnehmen. Das muss jedoch nicht unbedingt heißen, dass wir dadurch weniger intelligent sind. Aber es verändert die Art und Weise wie wir denken und Probleme angehen.

Insgesamt scheint es also, dass wir in den Tests nicht schlechter abschneiden, weil wir dümmer werden, sondern eher weil wir einfach spezialisierter intelligent sind und anfangen anders zu denken. Und jenseits der umfangreichen norwegischen Studie stützen sich viele Untersuchungen zum Anti-Flynn-Effekt entweder auf kleinere Stichproben oder sie betreffen nur Teilbereiche der Intelligenz. Vereinzelten Nachrichten von stagnierenden oder sinkenden Intelligenzwerten stehen bislang deutlich mehr Ergebnisse gegenüber, die für einen weiteren Anstieg sprechen.

 

 

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