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Fundgrube Flutsaum - Winter am Nordseestrand
Der Wechsel zwischen Ebbe und Flut, die algen- und seetangreichen Flachwasserbereiche und ein große Nährstoffvorrat bieten einer Vielzahl an Krebsen, Muscheln und Schnecken einen optimalen Lebensraum in und an der Nordsee. Am Strand kann man deshalb auch immer zahlreiche Tiere entdecken, die mit den Wellen aufs Trockene gespült werden. In diesem sogenannten Flutsaum finden sich aber nicht nur Muscheln, Seesterne und Co. oder ein Haufen Tang.
Gerade, wenn an der Nordsee starke Stürme wehen und sich auf dem Wasser riesige Wellen bilden, werden häufig Pflanzen und Tiere an den Strand gespült – darunter auch einige seltene Spezies. Denn die Nordsee hat in puncto Artenvielfalt einiges zu bieten: Im UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer leben mehr als 10.000 Tier- und Pflanzenarten, von denen einige durch die Sturmwellen von dem Meeresboden aufgewirbelt werden.
Sogar Tiere der Tiefsee tauchen auf
Wenn die Stürme abgezogen sind und die sonst eher selten sichtbaren Nordseebewohner schließlich am Strand auftauchen, kann man buchstäblich begreifen, welche Artenvielfalt die Nordsee zu bieten hat. Auf Sylt zum Beispiel wurden schon Mondfische, ein Blauhai oder Leuchtheringe aus der Tiefsee gefunden, auch ein Thunfisch trieb schon an. Tot waren sie und sie lagen am Strand. Es ist durchaus üblich, dass Lebewesen aus wärmeren Gefilden in die Nordsee gelangen – sei es durch Strömungen, sei es durch Wanderungen – und dort durchaus zumindest einen Sommer überleben.
„Fällt die Wassertemperatur allerdings unter fünf Grad, sterben solche verirrten Tiere meist und werden irgendwann an den Strand gespült. Das ist ein typisches Phänomen um die Jahreswende“, erklärt Rainer Borcherding von der Schutzstation Wattenmeer in Husum. Es müssen aber nicht Exoten sein, die man winters zu sehen bekommt, in der Nordsee leben allerhand wundersame Wesen im Verborgenen, so der Experte.
Immer neue Überraschungen
„Anhaltende Sturmwetterlagen sorgen immer wieder für manche Überraschung am Spülsaum“, so Borcherding. Im Winter und nach Sturm melden Strandspaziergänger zum Beispiel Maskenkrebse, die nur in der kalten Jahreszeit in Küstennähe auftauchen, oder Kammsterne, die in für normale Wellen unerreichbaren Tiefen der Nordsee leben. So etwas bekommen sonst nur Taucher zu Gesicht. Auch Zirrenkraken tauchen auf und Seemannshände – eine Korallenart, die auch als Tote-Mann-Hand bekannt ist.
Häufiger im Winter sind beispielsweise auch leere Gehäuse von Herz-Seeigeln oder die orangefarbenen Laichballen der Wellhornschnecke. Auch die aus tausenden winzigen Teilen eines Nesseltieres zusammengesetzten „Seebälle“ finden sich am Strand – ausgetrocknet sind sie so leicht, dass sie vom Wind über die Sandbänke gerollt werden. „Und in ruhigen Bereichen liegen manchmal ganze Flächen von zerriebenen Holzstückchen und Jahrhunderte altem Torf – mit etwas Glück kann man dort auch ein kleines Stückchen Bernstein finden“, sagt Borcherding.
Ungewöhnliche Einzelfunde
„Immer wieder melden Strandspaziergänger, gerade im Winter und nach stürmischen Tagen, auch ungewöhnliche Einzelfunde“, berichtet Borcherding. Und genau für solche Fälle hat er mit seinen Kollegen den „BeachExplorer“ entwickelt: Ein Strandfundportal als kostenlose App für das Smartphone oder den Computer, mit dem eigene Funde bestimmt und in eine Datenbank eingepflegt werden können – ein digitales Bestimmungsbuch für mehr als 2.000 Sorten Strandfunde.
Und die App hat sich bereits oft als Hilfe herausgestellt: Wer hätte sonst zum Beispiel vom Lanzettfischchen erfahren? Und wer hätte es erkannt? „Das war schon eine große Besonderheit“, erinnert sich Borcherding. „Dieses etwa fünf Zentimeter kleine Tierchen lebt normalerweise tief im Sand verborgen und gräbt sich mit schnellen und zappeligen Schlängelbewegungen ein.“
Es handelt sich dabei um einen Urzeitfisch, der sich im Laufe der Evolution kaum verändert hat und den Vorfahren aller Wirbeltiere ähnelt – ein echter „Dinosaurier“ also, der da vor Sylt auftauchte. Wenn eine solche Art am Strand liegt, muss der Meeresboden im flacheren Wasser der Küstennähe durch tiefreichende, harte und kurze, Wellen, sogenannte Grundseen, quasi umgepflügt worden sein.
Der BeachExplorer als Datenquelle und -sammler
Nicht nur diese besonderen Funde, sondern jeder einzelne, der über den BeachExplorer bestimmt und gemeldet wird, ist ein wichtiger Hinweis für die Experten: Diese Meldungen fließen in Datenbanken ein und erlauben es Forschern, ein immer detaillierteres Bild von der Lebenswelt der Nordsee zu gewinnen.
„Ob es tatsächlich eine Zunahme an seltenen Arten wie zum Beispiel dem Seepferdchen gibt, die in den Jahren 2019 und 2020 häufiger gemeldet wurden, ist allein durch solche Meldungen nicht zu verifizieren. Aber wir gewinnen eine viel bessere Datenlage als früher und können so immer besser den Zustand der Flora und Fauna in der Nordsee abbilden“, berichtet der Biologe.
„Und die Strandspaziergänger sind für Umweltbelange im Großen und die schützenswerte Schönheit im Detail sensibilisiert“, ergänzt er. Was an den Strand gespült wird, lässt sich in der Regel mit dem beachexplorer.org schon am Deich oder Strand bestimmen.
Massenstrandungen werden zum Problem
So registrieren Borcherding und sein Team auch immer häufiger Massenstrandungen an der Nordsee: „Mancherorts kommt es zu Massenstrandungen von Seesternen, Herz-Seeigeln oder Schwertmuscheln“, berichtet er. „Diese massenhaften Anspülungen zeigen, dass die Sturmwellen den Meeresboden regelrecht leerfegen. Der starke Seegang wirbelt den lockeren Sandboden auf und rollt die ausgegrabenen Bodentiere so lange hin und her, bis sie entkräftet oder tot zu Tausenden am Strand landen.“
Ob solche Strandungen möglicherweise eine längerfristige Folge für die Tierwelt der Nordsee haben könnten oder ob sie zum natürlichen Zyklus von Werden und Vergehen gehören, müsse sich – auch anhand der Daten der App – noch zeigen. „Wissenschaftlich erforscht sind solche Massenstrandungen in Folge von Stürmen bisher kaum“, sagt Borcherding. Interessant dürfte das vor allem vor dem Hintergrund zunehmender Wetterextreme sein, so der Experte.
Das Müllproblem der Meere
Aber nicht nur die Daten über einzigartige Tieren und Massenstrandungen sind wichtig: Auch Hinweise zum angeschwemmten Müll sind entscheidend für den Umweltschutz, wie der Experte erklärt. Von Blechen über Handschuhe und richtige Schuhe bis zum Einweg-Rasierer oder Gartenteich – es gibt nichts, was es nicht gibt und was nicht irgendwann an einem Strand gefunden wird, bestätigt der Biologe.
Zwar sind die großen Stücke weniger geworden, aber Müll gibt es immer noch zu viel im Meer, vor allem Mikroplastik – winzige, mitunter mikroskopisch kleine Kunststoffteile – sind ein Problem. Stolpert man bei seiner Suche am Spülsaum am Strand über die Unmengen an Müll, regt das oft zu denken an und schärft auch oft das Bewusstsein, seinen eigenen Umgang mit Plastik und Müll zu hinterfragen.
Jeder Fund hat seine Geschichte
Aber so mancher dieser Strandfunde erzählt auch eine Geschichte. Denn der Müll stammt aus der ganzen Welt, weil gerade das Plastik jahrelang in den Ozeanen verbleibt. So haben Fundstücke mitunter fremde Schriftzeichen und berichten so von ihrer Herkunft aus fernen Gegenden. Andere Fundstücke sind vierzig, fünfzig Jahre alt und wirken mit ihrem Wiedererkennungswert seltsam, sonderbar berührend.
Aber Obacht: „Ganz skurril war der Fund eines kleinen schwarzen Zylinders, scheinbar aus schwarzem Holz, mit sieben Längsbohrungen“, erinnert sich Borcherding. „Tagelang habe ich bei Archäologen und Technikern recherchiert, bis ich schließlich herausfand, dass es ein Stückchen Sprengstoff aus der Treibladung einer alten Granate war.“ Deshalb betont der Biologe: „Das Meer bringt auch manche Sachen zurück, die wir ihm zumuten. Je weniger wir hinein werfen, um so ungetrübter sind die Freuden des Strandspaziergänge!“