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Schöne Nebenwirkung

Von Viagra bis Aspirin: Viele Medikamente werden heute längst nicht mehr nur für die Zwecke verwendet, für die sie ursprünglich entwickelt wurden. Denn die Wirkstoffe haben nützliche Nebenwirkungen gezeigt – und können daher auch bei anderen Leiden helfen. Diese Zweitverwertung alter Medikamente birgt großes Potenzial. Doch sie bringt auch einige Herausforderungen mit sich.
DAL, 02.04.2020

Die Suche nach einem medizinischen Wirkstoff ist oft langwierig und teuer.

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Die Entwicklung neuer Medikamente ist aufwändig, langwierig und teuer: Von der Entdeckung eines potenziellen Wirkstoffs bis hin zu seiner Einführung auf dem Markt können leicht zehn Jahre vergehen und Milliarden Euro an Forschungsgeldern fließen. Hinzu kommt, dass die Wirkstoffforschung aller technologischen Innovationen zum Trotz paradoxerweise immer langsamer und kostspieliger wird.

Schneller und günstiger

Umso verlockender ist die Aussicht, diesen Prozess effizienter machen zu können – zum Beispiel durch die Zweckentfremdung bereits existierender Wirkstoffe: Fachleute sprechen von "Drug Repositioning" oder "Drug Repurposing". Bereits zugelassene oder in klinischen Studien zumindest als sicher erwiesene Wirkstoffe für neue Anwendungsgebiete zu entdecken, hat dabei viele Vorteile. So wurden diese Stoffe bereits intensiv geprüft. Ihre Zusammensetzung ist ebenso bekannt wie mögliche schädliche Nebenwirkungen.

Dieses Vorwissen führt nicht nur dazu, dass das Risiko zu scheitern geringer ist. Es können auch einige Schritte des herkömmlichen Entwicklungsprozesses übersprungen oder erheblich verkürzt werden. Das kommt im Idealfall den Patienten zugute, für die schneller neue Therapien zur Verfügung stehen. Gleichzeitig profitieren die herstellenden Pharmakonzerne, weil sie dadurch enorm viel Geld sparen.

Paradebeispiel Viagra

Eines der berühmtesten Beispiele für ein Medikament mit schöner Nebenwirkung ist der Wirkstoff Sildenafil, den meisten wohl besser als Viagra bekannt. Was ursprünglich als Mittel gegen Bluthochdruck geplant war, wurde bei den Probanden im klinischen Testlauf schnell für eine andere Eigenschaft geschätzt: Sie bemerkten, dass Sildenafil offenbar bei Erektionsstörungen half – eine zufällige Entdeckung, die den Arzneistoff zum Kassenschlager machte.

Auch das eigentlich als Schmerzmittel gedachte Aspirin wird inzwischen für andere Zwecke erprobt. So hilft das Medikament mitunter Patienten als Blutverdünner. Außerdem untersuchen Mediziner, ob Aspirin depressiven Menschen zugutekommen könnte. Der Hintergrund: Das Mittel wirkt entzündungshemmend – und Depressionen scheinen mit Entzündungen im Gehirn einherzugehen.

Viagra: Die blauen Pillen helfen nicht nur bei Erektionsproblemen.

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Gezielte Suche

Forscher fahnden heute systematisch nach weiteren Wirkstoffen mit solchen spannenden (Neben-)Wirkungen. Zuletzt ist dabei beispielsweise Steven Corsello vom Broad Institute in Cambridge und seinem Team ein Erfolg geglückt. Sie hatten 4.000 Wirkstoffe an menschlichen Krebszellen und dabei entdeckt, dass fast 50 in der Onkologie bisher nicht verwendete Mittel Tumorzellen töten können.

"Wir hätten uns schon glücklich geschätzt, nur einen Wirkstoff mit dieser Eigenschaft zu finden. Entsprechend überrascht waren wir, als es so viele wurden", berichtet Corsellos Kollege Todd Golub.

Potenzial noch nicht ausgeschöpft

Die Wiederentdeckung alter Medikamente birgt großes Potenzial, um neue Therapiemöglichkeiten für Volkskrankheiten, aber auch seltene Erkrankungen zu entwickeln. Dieses Potenzial wird allerdings bei weitem noch nicht ausgeschöpft, wie Experten betonen. Einer der Gründe: Viele theoretisch umfunktionierbare Wirkstoffe verstecken sich regelrecht, weil es an übersichtlichen Datenbanken fehlt oder kommerziell erforschte Mittel der Geheimhaltungspolitik der Firmen unterliegen.

"Es könnte viel Forschung durchgeführt werden, die aber nicht passiert, weil Wissenschaftler zum Beispiel an Universitäten nicht mitbekommen, was Pharmaunternehmen treiben", sagte Christine Colvis vom amerikanischen National Center for Advancing Translational Sciences (NCATS) gegenüber dem Fachmagazin "Nature".

Sinnvoll oder nicht?

Doch nicht immer ist der Zugang zu den Wirkstoffen das Problem: Vor allem bei Mitteln mit abgelaufenem Patent fehlt oft das kommerzielle Interesse, eine mögliche Zweitverwertung zu erforschen. Nach Ansicht vieler Fachleute müssten mehr Anreize geschaffen werden, um alte Medikamente noch einmal unter die Lupe zu nehmen – zum Beispiel in Form von Marktrechten oder Fördermöglichkeiten.

Gleichzeitig ist jedoch auch ein genauerer Blick darauf nötig, wann die Zweit- oder Drittverwertung eines Medikaments Sinn macht und wann nicht. Vor allem bei patentrechtlich noch geschützten Arzneimitteln bemängeln Kritiker mitunter den Trend zur Zweckentfremdung. Denn oft gehe es lediglich darum, den Umsatz weiter zu erhöhen, weil das Geschäft mit der alten Indikation stagniere. Kurzum: Es wird dann nach einer neuen Krankheit für die Pille gesucht – obwohl es doch eigentlich anders herum sein sollte.

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