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Synästhesie – Wenn der Dienstag salzig schmeckt und die Neun lila ist
Dass der Wochentag Donnerstag, der Buchstabe G und die Zahl Neun allesamt den gleichen dunkelvioletten Farbton haben, ist für mich so offensichtlich wie, dass der Himmel blau ist. Ich habe eine „Graphem-Farb-Synästhesie“, was bedeutet, dass Buchstaben, Zahlen oder manchmal auch ganze Wörter für mich automatisch mit bestimmten Farben verknüpft sind.
„Graphem“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Schrift“ und „Synästhesie“ so viel wie „zugleich wahrnehmen“. Dabei rufen die Buchstaben eine Farbwirkung hervor, selbst wenn ihre tatsächliche Farbe ganz eindeutig erkennbar ist. Die schwarze Druckfarbe der Zahl neun bleibt für mich natürlich schwarz – und trotzdem ruft sie gleichzeitig in meiner Wahrnehmung einen dunkelvioletten Farbton hervor, der genauso fest zu ihr gehört wie ihre Form.
Geschmackvolle Klänge und ein salziger Dienstag
Doch das ist nicht die einzige Art von Synästhesie, ungefähr 75 verschiedene Synästhesien sind bisher beschrieben. Ein besonders bekannter Vertreter mit einer Farb-Klang-Synästhesie war der Künstler Wassily Kandinsky: Bei ihm floss die Synästhesie sogar in seine abstrakte, expressionistische Kunst ein, mit Werken wie „Komposition VII“. Kandinsky sah Farbeindrücke, wenn er Töne und Musik hörte. Farben bei Musik zu sehen, ist für mich trotz meiner Synästhesie wahrscheinlich genauso schwer vorstellbar, wie es für Nicht-Synästhetiker ist, sich meine Farbzuordnungen zu Zahlen oder Wochentagen vorzustellen.
Es gibt noch viele weitere Formen: Manche Menschen nehmen Geschmack bei Wörtern wahr – etwa löst das Wort „Dienstag“ für sie einen salzigen Geschmack aus. Andere erleben Tastsinn-Synästhesie, bei der bestimmte Geräusche ein körperliches Empfinden hervorrufen, etwa ein Kribbeln auf der Haut. Wieder andere sehen räumliche Kalender, bei denen Monate oder Wochentage fest im Raum angeordnet erscheinen.
Synästhesie ist Familiensache
Doch wie kommt dieses Phänomen überhaupt zustande? Diese Frage untersuchten Forscher des Trinity College Dublin im Jahr 2008 in einer Studie mit 53 synästhetischen Versuchspersonen. Sie schauten nicht nur darauf, ob Synästhesie in Familien vorkommt, sondern auch, welche Form sie dort jeweils annimmt. Das Ergebnis: Bei immerhin 42 Prozent der Teilnehmenden fand sich mindestens eine weitere Person in der Familie, die ebenfalls Synästhetiker war. Und spannend war vor allem, dass diese Angehörigen längst nicht immer die gleiche Art von Synästhesie hatten.
„Die Tatsache, dass viele Varianten der Synästhesie in der gleichen Familie existieren, deutet darauf hin, dass alle Formen der Synästhesie innerhalb eines gemeinsamen Spektrums liegen und einen einzigen zugrundeliegenden genetischen Mechanismus teilen“, erklärt das Team um Kyle Barnett. Wie das funktioniert, ist heute noch unklar, doch Forschende gehen davon aus, dass Synästhesie entsteht, weil sich das Gehirn schon früh etwas anders vernetzt als bei Nicht-Synästhetikern.
Ihr Gehirn ist anders verkabelt
Um die biologischen Ursachen dahinter besser zu verstehen, hat ein Forschungsteam um Amanda Tilot vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im Jahr 2018 das Erbgut von drei Familien untersucht, in denen über mehrere Generationen hinweg dieselbe Form von Synästhesie vorkommt: Die Betroffenen sehen Farben, wenn sie Musik oder Geräusche hören.
Dabei zeigte sich: Familienmitglieder mit Synästhesie teilten oft dieselben genetischen Besonderheiten. Insgesamt tauchten 37 potenziell relevante Genvarianten auf – allerdings jeweils unterschiedliche in jeder Familie. Trotz dieser Unterschiede fanden die Forschenden einen gemeinsamen Nenner: Viele der Varianten lagen in Genabschnitten, die an der Bildung neuronaler Verbindungen beteiligt sind. Besonders auffällig waren sechs Gene, die sowohl im Hör- als auch im Sehsystem aktiv sind – genau in jener frühen Entwicklungsphase, in der Synästhesie typischerweise entsteht.
Auch wenn die genauen Ursachen der Synästhesie noch nicht vollständig verstanden sind, wird immer deutlicher: Sie ist weder Fehlfunktion noch reine Einbildung oder Fantasie, sondern eine besondere Form der Wahrnehmung, die tief im Gehirn verankert ist. „Synästhesie ist ein schönes Beispiel für Neurodiversität, die wir respektieren und feiern sollten“, sagt Simon Baron-Cohen vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik.