wissen.de Artikel
Montessori - die Lust am Selberlernen
Ein Junge schneidet Papierstreifen, ein anderer gießt Wasser von einem Kännchen in ein anderes – nebenan zeigt eine Vierjährige einer Dreijährigen, wie man mit einer Schere Blumenstiele kürzt: Wir sind in einem Kinderhaus im französischen Roubaix. Hier darf jedes Kind seiner eigenen Neugier folgen und das erforschen, wonach es ihm gerade am meisten verlangt. Denn die Vorschüler im Alter zwischen drei und sechs Jahren lernen nach dem Prinzip Montessori – einer Pädagogik, die auf die gleichnamige italienische Naturwissenschaftlerin und Ärztin zurückgeht.
Förderung als Schlüssel
Es ist inzwischen über 100 Jahre her, dass Maria Montessori auf der psychiatrischen Station eines Krankenhauses mit geistig behinderten Kindern arbeitete. Dabei stellte sie fest, dass viele ihrer kleinen Patienten gar nicht kognitiv unterentwickelt waren – sondern ihnen bislang nur jegliche Förderung gefehlt hatte.
Damals begann Montessori eine spezielle Methode zu entwickeln, um diesen Kindern zu helfen. 1907 gründete sie in einem Armenviertel in Rom schließlich das erste Casa dei Bambini, das erste Kinderhaus. Dort kümmerte sie sich um zum Teil sozial verwahrloste Kinder, die in diesem Umfeld binnen kürzester Zeit Rechnen und Schreiben lernten.
Alltag nach dem Montessori-Prinzip
Folgt man Montessoris Gedanken, müssen Eltern und Erzieher dem natürlichen Entdeckergeist von Kindern nur individuell Raum geben. Dann werden schon die Kleinsten mit Freude lernen und begreifen. Wie das in der Praxis genau funktioniert, hat der Filmemacher Alexandre Mourot im ältesten Montessori-Kinderhaus Frankreichs dokumentiert. Mehr als drei Jahre lang machte er sich als stiller Beobachter mit Kamera ein eigenes Bild vom Alltag der Schüler.
Nicht nur in Frankreich ist das Lernen nach der traditionsreichen Montessori-Methode in gewissen Kreisen en vogue. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es immer mehr Kindergärten und Schulen dieser Art. In Deutschland arbeiten mittlerweile hunderte Einrichtungen ausschließlich nach dem Prinzip Montessori. Doch auch Lehrer und Erzieher in Regelschulen und -Kitas übernehmen immer häufiger Aspekte aus diesem Konzept.
Jedes Kind im Mittelpunkt
Was aber bedeutet das konkret? Aristoteles behauptete einst: Jeder Mensch strebt von Natur aus nach Wissen – genau davon war auch Montessori überzeugt. Sie vertraute darauf, dass jedes Kind den Drang zu lernen hat und dass dieser mit den richtigen Spiel- und Arbeitsmaterialien erhalten und genährt werden kann.
Dabei sind ihrem Ansatz nach zwei Faktoren besonders entscheidend: Zum einen müssen die Kinder sinnliche Erfahrungen machen, weil sie durch konkrete Handlungen am besten lernen. Zum anderen muss beim Lernen stets die Individualität und die Unabhängigkeit des einzelnen Lernenden im Vordergrund stehen. Kinder, die in ihrem eigenen Rhythmus und den eigenen Interessen folgend lernen, beschäftigen sich demnach konzentrierter, erleben Selbständigkeit – und verinnerlichen das Gelernte dadurch am besten.
Freiarbeit statt starrer Stundenplan
Aus diesem Grund gibt es bei der Montessori-Pädagogik so gut wie nie Frontalunterricht und keine starren Stundenpläne. Stattdessen bildet die sogenannte Freiarbeit ein zentrales Element des Lernens. Die Kinder bekommen so Gelegenheit, ihrem eigenen Lernbedürfnis zu folgen und frei zu entscheiden, wann sie sich womit beschäftigen möchten.
Die Aufgabe der Erzieher und Lehrer ist es dabei, sogenannte "sensible Phasen" ihrer Zöglinge zu erkennen und sie zu Themen oder Aktivitäten hinzuführen, die in dieser Phase ihr Interesse wecken könnten. Sie schaffen eine auf den jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes abgestimmte Umgebung und stellen entsprechende Arbeitsmaterialien zur Verfügung. Ansonsten halten sie sich jedoch weitestgehend zurück – getreu nach dem Motto: "Hilf mir, meine Arbeit selbst zu tun."
"Viel häufiger anwenden"
Auf diese Weise gefördert, lernen Kinder nach Montessoris Auffassung nicht nur gut. Sie bekommen auch die Möglichkeit, ihre Persönlichkeit optimal zu entfalten. "Maria Montessori hat versucht, die Kinder auf dem für sie richtigen Weg zu begleiten. Sie wollte ihnen dabei helfen, starke und ausgewogene Persönlichkeiten zu entwickeln", erklärt Mourot.
"In Frankreich sind die Schriften Maria Montessoris bekannt, aber praktiziert wird ihre Pädagogik nur in privaten Einrichtungen. Genau darum habe ich den Film gemacht", sagte er der Rheinischen Post. "Ich denke, dass die Idee, den Eigenantrieb von Kindern zu nutzen und ihre Bedürfnisse zu respektieren, viel häufiger angewendet werden müsste."
Pädagogisches Allgemeingut
Doch ist Montessori wirklich immer der bessere Weg? Klar ist: Einige der vor 100 Jahren noch revolutionären Elemente der Montessori-Methode sind inzwischen aus gutem Grund pädagogisches Allgemeingut geworden: Dass kleine Kinder sich zum Beispiel eher für Zahlen interessieren, wenn sie diese aus buntem Papier selbst ausschneiden, leuchtet ein. Und wie stolz ein Kind ist, wenn es seinen Essplatz ganz alleine gedeckt hat, gehört dank Montessori heute selbstverständlich zum Wissen der meisten Eltern.
Trotzdem wird nicht jedes Kind in einer radikal nach Montessori ausgerichteten Bildungseinrichtung gleich gut zurechtkommen: Während manchen Schülern das freie Lernen ohne Druck guttun mag, sind andere ohne feste Regeln und Strukturen womöglich eher überfordert. Kritiker des Konzepts bezweifeln zudem, ob Kinder mit Montessori adäquat auf "die Welt da draußen" vorbereitet werden – eine Welt, die auch von Leistungsdenken, Prüfungen und Tests geprägt ist.
Kein staatlicher Abschluss
Für ältere Jahrgänge ganz praktisch von Nachteil ist, dass an einer Montessori-Schule kein staatlicher Abschluss erworben wird. Allerdings können die Schüler alle Abschlüsse vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur als externe Prüflinge ablegen. Ein Wechsel an die Regelschule ist prinzipiell ebenfalls fast immer möglich.
Alexandre Mourots Dokumentation "Das Prinzip Montessori – die Lust am Selberlernen" ist ab heute bundesweit im Kino zu sehen.