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Ein Schnitt mit Folgen

Fast jede dritte Geburt erfolgt in Deutschland per Kaiserschnitt – eine Tatsache, die Experten zunehmend kritisch sehen. Denn in Notfällen kann eine chirurgische Entbindung zwar Leben retten. Sie scheint jedoch langfristig mit negativen Gesundheitsfolgen für das Kind einherzugehen. So zeigt eine Studie, dass Kaiserschnitt-Kinder häufiger an Allergien, Übergewicht und anderen Erkrankungen leiden als natürlich Geborene. Woran liegt das?
DAL, 17.10.2019

Der Kaiserschnitt wird längst nicht mehr nur in Notfällen durchgeführt. Zwingende medizinische Gründe liegen angeblich nur bei jeder zehnten Geburt vor.

iStock.com, Oleksandra Troian

Der Kaiserschnitt galt lange Zeit als medizinischer Fortschritt – und tatsächlich ist der Schnitt in die Bauchdecke in bestimmten Situationen ein Segen. Denn wenn akute Gefahr für Mutter oder Kind besteht, kann die chirurgische Entbindung Leben retten. Allerdings wird die Sectio caesarea heute längst nicht mehr nur in Notfällen durchgeführt. Aus Angst vor Komplikationen und Schmerzen entscheiden sich viele Frauen ganz bewusst für den Eingriff.

Warum auch sollte sich eine werdende Mutter für eine natürliche Geburt entscheiden, wenn ein Kaiserschnitt doch alles einfacher und weniger riskant macht? Ein Argument gegen die Schnittentbindung zeichnet sich zunehmend ab: Womöglich schadet der Eingriff der Gesundheit des Kindes. Etliche Studien haben in den vergangenen Jahren Hinweise darauf gefunden, dass per Kaiserschnitt geborene Kinder langfristig mehr Gesundheitsprobleme haben als "normal" geborene.

Mehr Übergewicht, Allergien und Co

Der im September veröffentlichte Kindergesundheitsreport der Techniker Krankenkasse (TK) bestätigt dies. Demnach haben Kaiserschnitt-Kinder ein höheres Risiko, in den ersten acht Lebensjahren unter Entwicklungsstörungen, Allergien und Magen-Darm-Erkrankungen zu leiden. Auch Störungen wie ADHS, Blutarmut und Übergewicht sind bei ihnen häufiger – eine Liste, die sich noch weiter fortführen ließe.

"Kaiserschnitte sind ein Segen für Mutter und Kind, wenn sie in medizinisch notwendigen Fällen eingesetzt werden. Wenn allerdings eine OP nicht unbedingt notwendig ist, sollten Arzt und Eltern auch die Folgen für die Gesundheit des Kindes im Blick haben", betont Jens Baas von der Techniker Krankenkasse.

Neuere Untersuchungen legen nahe, dass per Kaiserschnitt geborene Kinder langfristig mehr Gesundheitsprobleme haben als "normal" geborene.

iStock, Handemandaci

Die Rolle des Mikrobioms

Was aber ist der Grund für die negativen Gesundheitsfolgen? Einer Theorie nach spielt das Mikrobiom der mütterlichen Vagina eine Rolle: Wenn sich das Baby bei der Geburt durch diesen Kanal schiebt, gehen dabei Bakterien auf seinen Körper über und siedeln sich im Darm an. Dieser Prozess fungiert als eine Art Impfung und beeinflusst das Immunsystem. Passiert dies nicht, fehlt der körpereigenen Abwehr ein wichtiger Trainingspartner.

Forscher vermuten daher, dass viele Krankheiten im Kindesalter wie im späteren Leben die Folge einer gestörten Erstbesiedlung des Darmmikrobioms sein könnten. Dass sich die Darmflora von natürlich und per Kaiserschnitt entbundenen Babys tatsächlich unterscheidet, hat erst kürzlich eine britische Studie gezeigt.

Frühchen besonders gefährdet?

Das zentrale Ergebnis: Bei per Kaiserschnitt Geborenen siedeln sich im Vergleich nicht nur weniger nützliche mütterliche Bakterienstämme an. Es lassen sich auch vermehrt potenzielle Krankheitserreger wie Enterococcus- und Enterobacter-Keime nachweisen. Damit stelle die Art der Geburt einen signifikanten Einflussfaktor für die Zusammensetzung des Darmmikrobioms von Neugeborenen bis hin ins Säuglingsalter dar, so das Fazit der Autoren.

"Die Studie liefert wichtige Erkenntnisse, die darauf schließen lassen, dass für die per Kaiserschnitt geborenen Kinder ein erhöhtes Risiko besteht, an bestimmten Infektionen zu erkranken. Das ist bei diesen sonst aber völlig gesunden Neugeborenen bisher nicht als definiertes medizinisches Problem in Erscheinung getreten. Im Gegensatz dazu stehen Frühgeborene, bei denen gerade diese Infektionen eine große Rolle spielen", kommentiert Hortense Slevogt vom Universitätsklinikum Jena.

Dass Frühchen möglicherweise stärker unter den Folgen eines Kaiserschnitts leiden, legt auch der TK-Report nahe: Diese Kinder hatten den Ergebnissen zufolge ein deutlich höheres Risiko für Krankheiten und Entwicklungsstörungen als zum errechneten Geburtstermin auf die Welt gekommene Babys.

Frühchen könnten möglicherweise stärker unter den Folgen eines Kaiserschnitts leiden.

Übereilter Griff zum Messer

Was aber bedeuten diese Erkenntnisse nun für werdende Eltern? Unstrittig ist: Ein Kaiserschnitt ist manchmal medizinisch nötig und auch psychische Faktoren können ein Argument für diesen Eingriff sein. Kritiker bemängeln allerdings, wie leichtfertig Ärzte Müttern in spe heutzutage zur Schnittentbindung raten. Sie sind der Überzeugung: In vielen deutschen Kreißsälen wird zu oft zum Messer gegriffen.

Ein Blick auf die Zahlen bestätigt diesen Eindruck: Fast jedes dritte Kind wird hierzulande per Kaiserschnitt auf die Welt geholt. Mit einer Kaiserschnittrate von 30,5 Prozent liegt Deutschland nicht nur über dem westeuropäischen Durchschnitt, sondern auch weit über dem, was die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für notwendig hält. Sie schätzt, dass im Schnitt nur bei 10 bis 15 Prozent der Geburten ein Kaiserschnitt unbedingt medizinisch erforderlich ist.

"Frühzeitig gegensteuern"

Interessant ist auch, dass die Zahl der Eingriffe in der Bundesrepublik regional stark schwankt. Während die Kaiserschnittrate in Sachsen nur bei 24 Prozent liegt, erreicht sie im Saarland 37,2 Prozent. "Diese Unterschiede lassen sich kaum durch medizinische Faktoren erklären", konstatiert Baas von der TK.

Seltener zum Messer zu greifen, ist die naheliegende Lösung. Doch auch wenn die Entscheidung für einen Kaiserschnitt fällt, können Eltern und Ärzte einiges tun, um ihr Kind vor möglichen Folgeschäden zu bewahren: "In der Praxis sollten Kinderärzte und Eltern bei Kaiserschnitt-Kindern genauer hinschauen, um Auffälligkeiten frühzeitig zu bemerken und gegenzusteuern", rät Klaus Rupp vom TK-Versorgungsmanagement.

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