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Synagogen in Flammen
Als Reaktion auf den Mordanschlag auf den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath am 7. November in Paris organisieren in der Nacht vom 9. auf den 10. November im gesamten Reichsgebiet SA-Trupps vorgeblich spontane Aktionen gegen Synagogen, jüdische Geschäfte und Gemeindehäuser und verhöhnen, misshandeln und töten Bürger jüdischen Glaubens.
Unmittelbarer Auslöser dieser "Reichskristallnacht", wie der Pogrom bald wegen der zahlreichen zerbrochenen Fensterscheiben genannt wird, ist Reichspropagandaminister Joseph Goebbels: Er erklärt am Abend des 9. November vor den anlässlich des Gedenkens an den Hitlerputsch vom 8./9. November 1923 in München versammelten "alten Kämpfern" in einer mehrdeutig formulierten Rede, dass nach Auffassung Adolf Hitlers "spontanen Demonstrationen" gegen Juden von der NSDAP nicht entgegengetreten werden sollte. Goebbels' Worte werden von den anwesenden NSDAP-Funktionären aber richtig verstanden: Die Partei soll nach außen hin nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten, sie aber in Wirklichkeit organisieren und durchführen.
Sofort per Telefon und Fernschreiber alarmiert, treten überall im Reichsgebiet die Schlägertrupps der SA in Tätigkeit. Die Polizei greift nicht ein, sie hat den Befehl, nur dafür zu sorgen, dass keine nichtjüdischen Geschäfte demoliert, keine Plünderungen vorgenommen und ausländische Staatsangehörige nicht belästigt werden. Vielerorts werden die Überfälle anhand von vorher angefertigten Listen organisiert. Zu welchen Exzessen es dabei vor den Augen einer weitgehend passiven Bevölkerung kommt, die sich nicht an dem Zerstörungswerk beteiligt, zeigt ein Bericht aus Saarlautern: "In Saarlautern holte man nachts die Juden aus den Betten und trieb sie durch die Stadt. Das Hauptgaudi bestand darin, dass man sie in dem Zustand, wie sie aus dem Bett kamen, barfuß herumjagte." In Karlsbad im Sudetenland werden Verfolgungen durch Fanfarensignale der Hitlerjugend eingeleitet, die aus ihren Häusern getriebenen Juden müssen stundenlang in der Kälte herumstehen.
In Köln sind vor allem die jüdischen Geschäfte rund um den Dom und am Neumarkt Ziel der Sturmtrupps; in der unter NSDAP-Herrschaft stehenden Freien Stadt Danzig werden die Ausschreitungen durch Malkolonnen vorbereitet, die in der Nacht des 10. November jüdische Geschäfte markieren und Häuser und Bürgersteige mit antisemitischen Parolen bemalen. Am 11. November beginnt dann das organisierte Zerstörungswerk. Im Anschluss an die Brandstiftung an den Synagogen, die zumeist noch in der Nacht des 9. November erfolgt, werden die zerstörten Gotteshäuser gesprengt.
An den Misshandlungen der nächsten Tage beteiligt sich vor allem die Schuljugend. Sobald sich ein Jude auf die Straße traut, wird er von Kindern verfolgt, die ihm nachspucken und ihn mit Steinen bewerfen. Am 10. Oktober werden in großem Umfang Verhaftungen vorgenommen, wobei in den Großstädten vor allem finanzkräftige Juden festgenommen werden. 10 911 kommen in das Konzentrationslager Dachau, 9819 in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar, rund 5000 nach Sachsenhausen. Hier werden sie schon bei der Ankunft in brutaler Weise geschlagen. Über die Bestrafung eines jüdischen Professors im KZ Sachsenhausen, der sich gegen die Misshandlungen zur Wehr setzte, schreibt der Augenzeuge Siegmund Weltlinger: "Ein riesiger SS-Mann schlug mit einem Ochsenziemer nach Kommando 25-mal auf den Gefesselten. Dieser schrie und brüllte vor Schmerz und das Blut spritzte nur so umher. Bei den letzten Schlägen war er ohnmächtig, denn er schrie nicht mehr. Dann wurde er abgeschnallt, es wurde Salz und Pfeffer in die Wunden gestreut, und der Bewusstlose wurde fortgeschleppt."
Bereits in der ersten Nacht kommen allein in Buchenwald 68 Juden ums Leben, innerhalb von drei Wochen sterben dort Hunderte von jüdischen KZ-Insassen infolge von Unterernährung und Misshandlungen. Nicht wenige werden erschossen.