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Ausnahmesituation - wie Corona unser Leben verändert

Die meisten von uns erleben es das erste Mal in ihrem Leben: Eine Krise, die monatelang weltweit anhält. Und das hinterlässt Spuren – sogar bei denen, die nicht unter einer Infektion leiden. Wir treffen seltener Familie und Freunde, halten Abstand und tragen einen Mundschutz. Aber welche Auswirkungen hat diese Pandemie sonst noch auf unser Leben?
ABO, 19.10.2020

Das Coronavirus hat nicht nur die Etikette gründlich geändert.

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Den Auswirkungen auf den Grund gegangen: Wissenschaftler weltweit verfolgen die Auswirkungen, die die Corona-Pandemie auf die Gesellschaft und jeden Einzelnen hat. Dazu hat Tilman Brück von dem International Security and Development Center (ISDC) in Berlin mit einem internationalen Forscherteam das Citizen Science-Projekt "Leben mit Corona" gegründet. Ziel ist es damit herauszufinden, wie Menschen in der ganzen Welt mit der derzeitigen Ausnahmesituation umgehen.

Hinter dem Projekt steckt eine globale Umfrage, die seit März 2020 Teilnehmer weltweit über ihr Leben während der COVID-19-Pandemie befragt. In den letzten sechs Monaten nahmen bereits fast 12.000 Teilnehmer aus mehr als 130 Ländern weltweit mit – und daraus ergaben sich sogar schon erste Erkenntnisse für die Forscher.

Jüngere verhalten sich weniger rücksichtslos als oft kritisiert wird, obwohl die sozialen und wirtschaftlichen Folgen sie im Durchschnitt härter treffen.

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Jüngere mit größerem Einsatz als erwartet

Bereits der Vergleich zwischen jungen Menschen und älteren zeigte klare Unterschiede in ihrem Umgang mit der Pandemie: So stellten die Experten fest, dass sich Jüngere weniger rücksichtslos verhalten als so oft angenommen. Zwar verfolgen 18- bis 25-Jährige etwas seltener Schutzmaßnahmen - wie beispielsweise das Händewachsen oder das Tragen von Hygienehandschuhen. Dennoch vermeide ein Großteil der Jüngeren häufig aktiv zum Beispiel das Händeschütteln, Treffen in Gruppen oder sich ins Gesicht zu fassen. Damit würden sie bewusst der Pandemie entgegenwirken, so die Forscher.

Sie seien im Vergleich zu älteren Menschen auch weltweit bereit auf einen größeren Anteil ihres Einkommens zu verzichten - wenn das die Ausbreitung des Virus stoppen könnte - so die Ergebnisse. Die Umfrage zeigte zum Beispiel, dass junge Deutsche zwischen 18 und 25 Jahren bereit sind, ein viel geringeres Jahreseinkommens hinzunehmen als über 45-Jährige. Global gesehen, nimmt diese Bereitschaft mit steigendem Alter um mehr als zehn Prozent ab.

Aber warum sind Ältere seltener dazu bereit ihr Einkommen zu kürzen, obwohl sie ein höheres Ansteckungsrisiko haben? „Es sind wahrscheinlich junge Menschen, die die größten Umbrüche in ihrem sozialen Leben erfahren: Sie befinden sich oft in einer schwächeren finanziellen Lage, arbeiten eher in den Branchen, die am stärksten von den Betriebssperren betroffen sind, und haben eine geringere Arbeitsplatzsicherheit“, argumentiert das Forscherteam. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen machen gerade ihnen zu schaffen.

Ältere empfinden weniger Stress

Ältere Menschen hingegen scheinen allgemein weniger besorgt zu sein - obwohl sie einem größeren Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind. Die meisten über 45-Jährigen sorgen sich derzeit zwar verstärkt um ihre Gesundheit, dennoch erweisen sie sich in der Gesamtsituation als weniger gestresst als jüngere Menschen. Laut der Experten deutet das Ergebnis an, dass viele ältere Menschen im Vergleich zu jüngeren Generationen besser mit einer solchen Ausnahmesituation umgehen und Stress besser mindern können.

„Darüber hinaus sehen wir bei Menschen mittleren Alters eine allgemeine Abweichung zwischen gesundheitlichen Bedenken und allgemeinem Stress“, sagen die Forscher. Sie vermuten, dass gerade bei 36- bis 45-Jährigen viele Stress-Auslöser nicht unbedingt mit der Angst um die Gesundheit, sondern vielmehr mit persönlichen Belastungen zusammenhängen. Beispiele dafür könnten ein  geringeres Einkommen zu Zeiten der Pandemie oder fehlenden sozialen Kontakte sein.

Frauen stärker gestresst

„Neue Konfliktlinien innerhalb von Familien, zwischen Generationen und zwischen Ländern entstehen“, bestätigt Brücks Kollege Wolfang Stojetz. So mache sich die Pandemie laut der Umfragen auch im familiären Alltag bemerkbar: Befragte aus größeren Haushalten ab drei Mitgliedern berichteten meist über mehr Spannungen in der Familie als kleinere von zwei Personen. Ob in einem Haushalt aber drei oder mehr Personen leben, erhöhe die Spannungen nicht weiter, so die Forscher.

Und das hat auch einen Grund: Das Forscherteam vermutet, dass es sich bei der dritten und jeder weiteren Person meist um Kinder handelt. Schulschließungen und Einschränkungen der Kinderbetreuung könnten in diesen Familien für erheblichen Stress sorgen. Ob sich die Eltern dabei um die Betreuung mehrerer Kinder kümmern, habe für die Betroffenen keinen deutlich höheren Aufwand.

Aber wen betrifft der familiäre Stress am meisten? „Wir stellen fest, dass Frauen bei fast jeder Haushaltsgröße ein signifikant höheres Maß an innerhäuslichen Spannungen erleben und wahrnehmen als Männer“, geben die Wissenschaftler an. Besonders groß war hierbei der Unterschied von Haushalten mit über sieben Familienmitgliedern im Vergleich zu Zwei-Personen-Haushalten. „Dies deutet darauf hin, dass Frauen sowohl als Partnerinnen als auch als Betreuerinnen zu Hause mehr Stress erfahren als ihre männlichen Kollegen.“

Schulschließungen und Einschränkungen der Kinderbetreuung könnten in Familien für erheblichen Stress sorgen.

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Vertrauen in Maßnahmen sinkt

Auch im Bezug auf den Kampf gegen das Virus, erkannten die Wissenschaftler eine Tendenz: Die meisten Befragten vertrauen generell in die Pandemie-Maßnahmen der Politik und werteten ihre Zustimmung im Schnitt auf über vier von fünf Punkten. Jedoch hielt diese hohe Zustimmung nur solange an, wie das jeweilige Land den ersten Höhepunkt der COVID-bedingten Todesfälle verzeichnete. Das Vertrauen sank meist, weil die Maßnahmen die Menschen durch die langen Sperrzeiten stark beanspruchten und dabei dennoch keine Besserung eintrat.

In einigen Ländern, wie zum Beispiel in Deutschland, erfolgte der Höhepunkt der Todesfälle sehr früh. Hier verringerte sich das Vertrauen in die Maßnahmen vermutlich nicht in Folge der Einschränkungen. „Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die Menschen restriktive Maßnahmen immer weniger unterstützen, selbst in einer Zeit, in der die Risiken der Pandemie hoch bleiben und die Wahrscheinlichkeit eines `zweiten Spike´ in einigen Ländern immer wahrscheinlicher erscheint“, so die Forscher.

Möglicherweise könnte sich das auch in Zukunft in der Politik bemerkbar machen: „Selbst wenn wir das Virus bald besiegen, wird sein Wirken unsere Gesellschaften noch lange Zeit auf komplexe Weise prägen", vermutet Stojetz.

Hoffnung auf einen globalen Impfstoff

Große Hoffnung zum Kampf gegen COVID-19 stecken viele Menschen in die Entwicklung eines neuen Impfstoffs. Dabei zeigte die Umfrage, dass sich die meisten Menschen wünschen, dass ein vorhandener Impfstoff weltweit zur Verfügung gestellt wird. In vielen Ländern – wie zum Beispiel Deutschland, Argentinien und Brasilien - bevorzugen mehr als 50 Prozent der Befragten diese globale Lösung.

Insgesamt ziehen es nur etwa ein Drittel der Menschen vor, wenn ihr eigenes Land vorrangig Zugang zu einem Impfstoff hätte. Zum Beispiel sprachen sich 40 Prozent der Studienteilnehmer aus Finnland, Brasilien und Portugal für diese Option aus. Besonders auffällig war dabei das Ergebnis aus den USA: Von allen Ländern - in denen mehr als 150 Personen an der Umfrage teilnahmen - sind die USA das einzige, in dem der vorrangige Zugang für das eigene Land mehr Stimmen als die globale Lösung erhielt.

„Gleichzeitig ist nur ein kleiner Bruchteil der Menschen auf der ganzen Welt damit einverstanden, dass Länder mit den schlimmsten Infektionsraten einen bevorzugten Zugang erhalten“, erklären die Forscher. Das verbreite den Anschein, dass sich Einwohner aus vorwiegend größeren Nationen weigern für Länder mit einem schlechteren Gesundheitssystem auf ihren Zugang zum Impfstoff zu verzichten, so die Experten.

Sollte es einen Impfstoff geben – wie wird er verteilt?

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Umfrage geht in die zweite Runde

„Unsere Analyse zeigt, wie umfassend die sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Auswirkungen der Pandemie sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern sind", sagt Brücks Kollegin Patricia Justino. Und ihre Ergebnisse seien auch in Zukunft von Bedeutung: „Diese Pandemie und die politischen Reaktionen, die wir auf der ganzen Welt gesehen haben, haben deutlich gemacht, wie wenig wir darüber wissen, wie Menschen in einer globalen Krise zurechtkommen", ergänzt Anke Hoeffler.

Um weitere Erkenntnisse über die Auswirkungen der Pandemie zu erhalten, rufen die Wissenschaftler nun weltweit dazu auf, an der zweiten Runde der Umfrage teilzunehmen. Derzeit ist die Umfrage in 18 Sprachen unter lifewithcorona.org abrufbar. Die Beantwortung des Fragebogens dauert circa 15 Minuten.

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